Rückblick 1. Mai 1987: Steinhagel über Kreuzberg
Am 1. Mai 1987 eskalierte die Gewalt nach einem Straßenfest in Kreuzberg. Menschen plünderten und randalierten, Autos brannten und ebenso mehrere Läden. Die Polizei war überfordert. Es folgten alljährliche Unruhen. Ein Rückblick.
Das Jubiläumsjahre1987, als Berlin, damals noch getrennt, sein 750-jähriges Bestehen feierte, war von Ambivalenz und Widersprüchlichkeit geprägt. Da war zum einen die monatelange unentwegte Hochglanzfeierei, die Selbstbespiegelung einer Stadt, die auch in normalen Jahren dazu tendierte, sich für den Nabel der Welt zu halten, und in ihrem 750. erst recht. Und da war die Atmosphäre der Gewalt, die Bereitschaft zum Krawall, anfangs latent und unterschätzt, am 1. Mai dann jäh auflodernd – wenngleich die Jubelfeiern danach erst richtig losgingen: Das Gefühl des Unbehagens, der Sorge, es könnte wieder beginnen mit brennenden Autos, Steinhageln und Schlagstöcken, wollte seitdem nie mehr so ganz weichen.
Die Dauerfeiern von damals haben sich im kollektiven Gedächtnis kaum verhakt, die Ereignisse des 1. Mai 1987 umso mehr. Die Erinnerungen an diesen Tag sind immer noch präsent: Der Tag der Arbeit, damals ein Freitag, begann in Berlin um 4.45 Uhr in der Gneisenaustraße 2 im Mehringhof, einem autonomen, von den Sicherheitsbehörden misstrauisch beäugten Projekt im Hinterhof. Dort befand sich das Volkszählungsboykott-Büro, Zentrum des linken Widerstands gegen das damals hoch umstrittene Statistikprojekt. In den Morgenstunden rückten Polizisten an, brachen Türschlösser auf, beschlagnahmten mehrere 1000 Flugblätter, Broschüren, Plakate. Der Fraktionsvorsitzende der Alternativen Liste (AL) im Abgeordnetenhaus, Wolfgang Wieland, sprach später von einer „provokativen Durchsuchung“, und so sah man das insgesamt in der linken Szene und besonders bei den Anarchos. Tagsüber war noch Ruhe, erst am Nachmittag braute sich der Sturm der Gewalt zusammen. Seinen Ausgangspunkt nahm er auf einem Straßenfest auf dem Lausitzer Platz, das von der AL und der SEW, dem West-Ableger der SED, veranstaltet wurde. Das übliche Bier- und Bratwurstidyll, bis ein leerer Streifenwagen umgekippt wurde – erstes Anzeichen, dass es noch Krawall geben dürfte.
Und es gab ihn: Ab 19.30 Uhr wurde das Straßenfest zum Straßenkampf. Polizeibeamte hatten versucht, den Platz abzusperren, plötzlich flogen erste Steine, dann eskalierte die Situation von Minute zu Minute. Rund um den Heinrichplatz wurden Barrikaden errichtet, bald brannten Autos, 36 Geschäfte wurden geplündert, die U-Bahn-Station Görlitzer Bahnhof verwüstet. Da unterhalb des Bahnhofs befindliche Kioske in Brand gesteckt wurden, verbannten auch Stromkabel. Die BVG musste den U-Bahnverkehr der Linie 1 bis zum 2. Mai um 22 Uhr unterbrechen. Augenzeugen berichteten damals, der unvorbereitete Angriff der Polizei, habe zunächst unbeteiligte Bürger völlig zerstört. "Es sei nicht erkennbar gewesen, weshalb der Festplatz eingeschlossen und mit Tränengas beschossen wurde. Dieser 'provokative Einsatz' habe viele normale Bürger dazu bewogen, sich zumindest passiv zu beteiligen - bis hin zu einem Greis mit Krückstock, der Steinewerfern Munition zugereicht haben soll", schreibt der Tagesspiegel am 7. Mai 1987.
Polizei trifft die Krawalle in Kreuzberg am 1. Mai 1987 völlig unvorbereitet
Die Polizei war weitgehend unvorbereitet, hatte nur 250 Beamte im Einsatz, die im Laufe der Nacht auf 900 Mann verstärkt wurden. Sie mussten erst zuhause angerufen und eingefordert werden.
Doch der Hass der etwa 300 Militanten und ihrer rund 600 Mitläufer richtete sich nicht allein gegen die Polizei, sondern ebenso gegen die Feuerwehr, die zu vielen Bränden nicht mehr durchkam und sich im Steinhagel teilweise zurückziehen musste. 55 Einsätzen konnten nicht "gefahren" werden, weil der Polizeischutz fehlte. Ein Fahrer eines Leiterwagens der Feuerwehr, der durch Steinwürfe zwei Zähne verlor, sagte damals dem Tagesspiegel: "Wo wir auch hinkamen, wir wurden mit Steinhagel empfangen." Das Fahrzeug, in dem er saß, wurde nahe der Barrikaden gezielt mit Steinen beworfen worden. Nachdem er selbst von einem Stein getroffen wurde, musste er unverrichteter Dinge davonfahren. Die Krawallmacher hätten ihnen hinter hergerufen: "Ihr Schweine, euch machen wir fertig."
Eine erschreckende Bilanz wird nach den Mai-Krawallen in Berlin gezogen
Auch den Bolle-Markt gegenüber der Station Görlitzer Bahnhof konnten die Feuerwehrmänner nicht mehr retten, seine Zerstörung machte viele damals fassungslos. Erst drei Jahre später stellte sich heraus, dass dieser Brand von einem Pyromanen gelegt worden war, der die Gunst der Stunde genutzt hatte. Heute befindet sich auf dem Grundstück eine Moschee.
Die Bilanz der Nacht war erschreckend: Schäden in Millionenhöhe, 77 Polizei- und 16 Feuerwehrfahrzeuge beschädigt, ein Löschwagen ausgebrannt. Mehr als 400 Verletzte, 53 Festgenommene, von denen aber keiner zum militanten Kern gehörte. Schockiert hat die Behörden wie auch viele Bürger, dass bei den Ausschreitungen eben nicht nur die militanten Autonomen mitmachten, sondern sich an den Plünderungen auch Leute beteiligten, denen man „das nie zutrauen“ würde, wie der Landes- und Fraktionsvorsitzende der SPD, Walter Momper, sagte. Er wohnte schon damals in Kreuzberg, hatte die Ausschreitungen miterlebt, die von einer relativ kleinen Gruppe „in Bambule erfahrener Leute“ ausgegangen seien, doch verwies Momper auch auf die „Häufung schwieriger sozialer Gruppen“ in Kreuzberg. Momper warf damals der Polizeiführung Versagen vor, wie im Tagesspiegel von 1987 zu lesen war. Über Stunden habe es in Kreuzberg einen "rechtsfreien Raum" gegeben, weil die Polizei überhaupt nicht präsent gewesen sei.
"Anti-Berliner" hättet randaliert
Offenbar habe sich hinter den zur 750-Jahr-Feier „blankgeputzten Fassaden ein hohes Maß an sozialen Spannungen angesiedelt“, versuchte der AL-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Wieland später zu erklären. Der damalige Innensenator, Wilhelm Kewenig (CDU), räumte "organisatorische Mängel" bei der Polizei ein. Doch warum war die Polizei nicht besser vorbereitet? Birkenbeul, Sprecher der Innenverwaltung, sagte dazu: "Brutalität und Umfang der Ausschreitungen waren nicht vorhersehbar." Senatssprecher Winfried Fest nannte die Randalierer schlicht "Anti-Berliner". Auch die vom Senat vielfach verantwortlich gemachten "Autonomen" meldeten sich zu Wort: "Wir finden es beschissen, wenn kleine Läden zu Schaden kommen und mit Feuer leichtsinnig umgegangen wird! Wir fordern alle auf, darauf zu achten, dass so etwas in Zukunft unterbleibt!"
Dieser Artikel erscheint im Kreuzberg Blog, dem hyperlokalen Online-Magazin des Tagesspiegels.