Konditoreien in Berlin: So altmodisch, dass es schon wieder hip ist
Als das Konditoreiensterben begann, setzte Heike Rödiger weiter auf Tradition. Auf Buttercreme, Sahne, Holz und alte Spiegel. Nun findet sie sich an der Spitze eines Trends.
Wo warst du denn?, fragt der ehemalige Polizist, fragt es ein Drittel empört, zwei Drittel erleichtert, und rutscht neben seiner Frau in das orangerote Sitzpolster. Er ist 91, sie 94 Jahre alt, Pflegestufe zwei, ihr Kopf. Und nun hatten sie sich in der Spandauer Altstadt verloren. Er hätte es sich ja denken können und dachte es dann auch, dass seine Frau unverzüglich in die „Konditorei Fester“ gehen würde, wo sie sicher sein konnte, dass ihr Mann sie findet. Schließlich hat er hier schon als kleiner Junge „Milchknüppel“ gekauft. Den Weg findet er im Schlaf und sie, ohne nachzudenken. Denn wenn man ohnehin beim Arzt ist, drei bis vier Mal in der Woche, nicht wahr, was soll man da noch nach Hause gehen und mit der Kocherei anfangen?
Ihre Berufe, Polizist und Köchin, üben die beiden schon fast eine Generation lang nicht mehr aus. Wenn aber den Menschen ausmacht, was er täglich tut, dann sind sie seit 25 Jahren Stammgäste in einer der letzten großen Konditoreien Berlins. „Das erste Haus am Platze“, sagt er anerkennend. Und das liegt nicht nur an den großen Markisen und der prächtigen Tortentheke. Wie ein Schiffsbug schiebt sich die Terrasse des Cafés in das Gewoge der Marktstände, neben die polnische Wurst, den Beelitzer Spargel und den Stralsunder Fischhandel. Der Wind fährt in die Kugelahorne, der Filterkaffee schwappt in schwersilbernen Kännchen, das halbe belegte Brötchen ist „reich garniert“. Es ist noch keine zwölf, da bringen sie auch den „Rüdesheimer“ raus, Kaffee „mit Asbach Uralt und Sahnehäubchen“.
Seit 90 Jahren gibt es das Haus
Sahnehäubchen sind ja das Synonym für etwas Erfreuliches und zugleich eklatant Unwesentliches. Verwandt mit den i-Tüpfelchen sind sie ein Dekor im Leben. Kann an einem Ort etwas Wesentliches passieren, dessen Grundlage es ist, Butter und Zucker schaumig zu rühren?
Seit 90 Jahren ist dieses Haus eine Heimat für Kuchen, Kellner, Kunden und Konditoren. Ein Familienbetrieb in dritter Generation, mit eigener Bachstube im Haus – das gibt es in Berlin kaum noch. Was wurde hier gesprochen, gefeiert und getrauert, in dem großen Café, hinten zwei Stufen hoch die Teppich-Empore mit den Polsterbänken, das Kaminzimmer im ersten Stock mit den Raffgardinen und Seidenblumen an den Fenstern zum Markt hinaus.
Sie wissen hier zum Beispiel, dass der Ort genau so wichtig ist wie das Gebäck und dass man auf keinen Fall beengt sitzen darf. Erst dann entsteht nämlich dieser halb öffentliche Raum voller Gemurmel und Tassengeklapper, in dem sich auch die Menschen aus dem Rathaus für ein vertrauliches Gespräch treffen können. Kaffeehäuser brauchen ja eine gewisse Größe, damit der Einzelne für sich sein kann.
Hier bestellt man noch mit Zettel
„Eine Spargelcremesuppe, aber den Toast ungetoastet, bitte.“ Die Karte ist eine Zeitreise: Pharisäer, Königinpastete mit Kalbsragout oder Kartoffelpuffer. Und das Unwahrscheinlichste: „Fester“ ist ein Schnipselcafé. Papierschnipsel, wie sie die alten Wannsee-Terrassen hatten, bevor sie abbrannten, oder das schon lange geschlossene Café Kammann am Kaiserdamm mit seiner geradezu obszön langen Tortentheke: Man wählt an der Theke ein Stück Torte, erhält einen Zettel mit Nummer, den man bei der Getränkebestellung am Tisch abgibt.
Es ist halt alles etwas älter hier, sogar der große Spiegel ist teilweise erblindet. Doch den Reiz zieht dieses Ambiente aus dem Gegensatz zur Frische der Sahnetorten, den täglich sogleich im Stockwerk darüber gebackenen Brötchen und dem Kaffeegeruch.
Heike Rödiger bittet um einen Filterkaffee. Heike Rödiger, der immer wieder prophezeit wurde, ihre Konditorei werde mit den Alten sterben. „Aber Sie glauben es gar nicht: Es gibt immer wieder neue Alte.“ Die wachsen nämlich nach. Und das ist nicht die einzige Überraschung, von der die Chefin zehrt. Seit einiger Zeit kommen auch junge Leute, begeistert vom Selbstgemachten, vom Handwerk. Von der inzwischen außergewöhnlichen Tatsache, dass alles im Hause frisch gefertigt wird. Sie bestellen Torten im Internet, ohne das Geschäft je betreten zu haben. Sie folgen Empfehlungen bei „yelp“ und Facebook, in die Spur gebracht von Backblogs und Fernsehshows. Die neue Koch- und Backwelle brandet an. Heike Rödiger berichtet von „hochwertigen Bewerbungsschreiben“ für die Ausbildung zum Konditor, auf den beigelegten Fotos nahezu perfekte Torten, sodass sie sich fragt, was sie diesen Menschen überhaupt noch beibringen kann. Die Familie Rödiger hat offenbar so lange an etwas vermeintlich Überlebtem festgehalten, dass sie sich plötzlich an der Spitze einer Bewegung wiederfindet.
Tatsächlich war es ihr Großvater, der Berliner Hellmuth Fester, der seinen Vornamen im Laufe seines Lebens mit einer ständig wechselnden Anzahl von „L“s und mal mit und mal ohne zweites „H“ schrieb, der 1926 in Heringsdorf die Freiheit besaß, seine erste Konditorei zu gründen. Er ging nach Berlin, eröffnete in Spandau ein Geschäft, das berühmt wurde, den Krieg überstand und danach noch berühmter wurde. Hier traf sich die Filmprominenz West-Berlins. 1953 bestellten die Briten zur Krönung von Königin Elizabeth II. deren Throninsignien in Zucker und Marzipan. Doch davon, dass Spandau einmal britischer Sektor war, ist heute nur noch ein englisches, besitzanzeigendes Apostroph auf der Karte geblieben: „Fester’s Kaffeepott“, vier Euro.
Helmut Kohl und Hans Albers waren auch schon da
Und dann setzt sich ihr Vater, Klaus-Jürgen Rödiger, mit seinen 88 Jahren dazu, der aus dem kühlen Keller kommt, wo er Baumkuchenringe mit dunkler Schokolade überzogen hat. Er hat dieses Haus 1976 am Markt gekauft, in seine Zeit fallen die Besuche von Curd Jürgens, Helmut Kohl und Hans Albers.
Seine große Zeit waren die Aufbaujahre, die 50er und 60er. Die Bomben waren jetzt aus Eis. Acht bis zehn verließen jedes Wochenende das Haus, mit der Straßenbahn und dem Fahrradanhänger wurden sie ausgeliefert. „Die Formen sind alle noch im Haus, aber wer ordert heute noch eine Eisbombe?“, fragt der Vater. – „Er kann die schönsten Hasen formen“, sagt die Tochter über ihn. Er kenne auch noch die Ersatzrezepte, als man statt Orangeat und Zitronat in den Stollen grüne Tomaten steckte und Limonade selbst herstellte.
Dass die Gesellschaft sich hier traf, lag wohl auch daran, dass Klaus-Jürgen Rödiger nicht nur Konditor, sondern zugleich ein sehr umtriebiger Rotarier und Unternehmer ist, der zum Beispiel eine estnische Städtepartnerschaft gründete, als Estland noch exotisch war und als Konditoreien noch bewundert wurden.
Heute gebe es in ganz Berlin noch 45 Betriebe in der Innung – vor der Jahrtausendwende waren es mehr als 160 allein im Westen der Stadt. Als in den 80er Jahren das Konditoreiensterben begann, das Mitte der 90er den Höhepunkt erreichte, als die Cafés plötzlich blau beleuchtet und modern eingerichtet wurden, ein Monitor in jeder Ecke, da wusste Heike Rödiger nicht, was sie tun sollte. Der Trend ging zum Billigen, die Backshops übernahmen und die Konditoren fanden für ihre anstrengende Arbeit keine Nachfolger mehr. „Auch die Produkte waren verpönt.“ Buttercremetorten, Frankfurter Kranz, Donauwellen – extrem unsportliches Gebäck.
Natürlich war das Café in die Jahre gekommen, das sah sie selbst, aber Heike Rödiger mochte die große, in Brauntönen gemalte Stadtansicht von 1976 an der Wand. Sie mochte die Lüster über der Theke, die Leuchter aus den 70ern. Andere schafften ihre Schaufenster mit den Auslagen ab und setzten vor die Scheibe lieber noch einen Tisch, damit der Umsatz stieg. Sie dekorierte unverdrossen weiter, denn Schaufensterdekoration gehört auch zur Prüfung der Innung, und wo bitte soll man das lernen, wenn es keine Beispiele mehr gibt? Auch auf den beeindruckenden Pralinenturm will sie nicht verzichten.
Die Konditorei, ein Ort des Übergangs
Heike Rödiger hat den klassischen Thonet-Stühlen lediglich ein neues Sitzpolster verpasst. „Ich habe es ausgesessen“, sagt sie. Wenn in all den Jahrzehnten einer der alten Stühle wackelte, besserte ihr Vater den zu Hause aus. Nun ist das Ambiente ein unverwechselbares Unikat.
Eine Konditorei diesen Kalibers ist ja ein psychologisch und gesellschaftlich relevanter Ort für Übergangsrituale: Nach dem Standesamt, der Beerdigung, auch bloß dem Einkauf, ist der Cafébesuch eine Zäsur. Kommt dann ein Regierender Bürgermeister vorbei, klappt Heike Rödiger sofort ihr dickes Gästebuch auf.
„Hätten Sie vielleicht gerne den Kaffee und die heiße Milch einzeln?“ Das fragt Özgen Cekin, die nie böse ist, wenn jemand sie „Fräulein“ ruft, und die einfach „Mathilde“ ist für alle, die „Frau Cekin“ nicht aussprechen können. Sie spürt, wenn jemand etwas Spezielles braucht. Sie weiß: Das Gespräch ist so wichtig wie der Ort und wie das Gebäck. Sie ist „Fachoberkellnerin“, in Bayreuth ausgelernt, nach Berlin gekommen im Jahr 2000, da war sie 29 Jahre alt. Jetzt ist sie 44 und hat ihre eigenen Stammkunden. „Wenn sie mir wegsterben, das ist hart“, sagt Özgen Cekin. Sie besucht deren Beerdigungen. Aber wenn sie bloß einmal vorhaben, etwas länger wegzubleiben, melden sich viele vorher telefonisch ab.
Sie alle hören, wenn im Haus das leichte Dröhnen einsetzt, ein kaum merkliches Beben, dann arbeiten im zweiten Stock die Teigmaschinen, die halb automatische Wirkmaschine. Die „Anschlagmaschine“ mit ihrem Knetrührer steht auf Gummifüßen, aber das Haus wackelt trotzdem.
Vor 15 Jahren waren sie die ersten mit Fototorten
Dort oben entstehen die Zimtbrezeln, Brötchen, Torten und Pralinen. Schade, dass die Gäste nicht hören können, mit welcher Rasanz ein Konditor dort die verschiedenen Arten des Auftriebs referiert, den chemischen, biologischen, physikalischen. Denn Backen heißt den Auftrieb beherrschen, sei es durch Hefe, Backpulver, untergeschlagene Luft und aufgeschlagenes Eiweiß, durch Weinstein und Natron. Auftrieb, der geschäftsentscheidend ist, denn er definiert: Wie fein ist ein Teig? Allein ein Strudelteig, dünn gezogen, mehrfach gefaltet, immer mit Wasser und einer Schicht Butter versehen. „Das Wasser will verdampfen“, sagt der Meister, das hebt das Gebäck in die Höhe.
Sie waren vor 15 Jahren die ersten, die in Berlin Fototorten angeboten haben. Kinder lieben die. Sie haben auch die „Minions“ aus Marzipan nachgeformt und Darth Vader auf der Torte platziert. Sie fertigen heute Macarons, selbst, wenn der Chefin, die eine gute Cremetorte zu schätzen weiß, hier „oller Keks“ entschlüpft. Gekauft werden sie trotzdem.
Unternehmern wird ja heute Spezialisierung empfohlen: ein einziges Produkt richtig gut machen. Die so Beratenen entscheiden sich dann für Cupcakes oder Cheesecake oder Flammkuchen. Heike Rödiger hält das für gefährlich. Was macht die Macaronmanufaktur, wenn das einzige Produkt wegbricht? Ihr Familienbetrieb setzt auf Vielfalt: die Zimtbrezeln nach einem alten Rezept, Baumkuchen, Hefeteige, Rührteige, Mürbeteige, Biskuitteige, Eisbecher und Toast Hawaii. Schließlich wird da auch ein Kulturerbe bewahrt.
Mohrenkopf heißt Mohrenkopf
„Wer kennt denn noch Wiesbadener?“, fragt Klaus-Jürgen Rödiger herausfordernd. Und Tatsache, bis gerade eben waren einem die traditionellen, seit 1902 geschützten „Wiesbadener“ noch völlig unbekannt: ein Waffelgebäck mit Nougat, Ananas und Mandeln. Doch es kommt vor, dass sie jemand wiedererkennt. Dann gibt es spitze Schreie vor der Theke: „Ich bin ab sofort Stammkunde!“
Man schwört hier auf den Heimbs-Kaffee, den der Großvater in den 50er Jahren als Erster nach Berlin holte. Im Winter öffnen sie ihr Fenster und verkaufen da heraus Feuerzangenbowle.„Ist das noch politisch korrekt?“, fragen die Kunden wegen des Klassikers, „dass der Mohrenkopf hier Mohrenkopf heißt?“ – „Bei Liegnitzer Bomben sagt nie einer was“, sagt die Chefin.
Heike Rödiger selbst ist verrückt nach Nougat, wie ihr Vater, die Wenigsten wissen ja Gutes von Schlechtem zu unterscheiden. Wenn die beiden abends noch bei einem Becher Eis zu Hause zusammensitzen, kommen ihnen gute Ideen. Und obwohl Heike Rödiger jeden Tag Süßes isst, findet ihr Zahnarzt nie etwas.
So lehnen sie sich mit ihren selbst gemachten Ostereiern und ihren hohlen Hasen gegen die billige Konkurrenz. Sie pflegen ihr großes Sortiment selbst gemachter Kekse und Marmeladen. Sie tun, was sie tun müssen. Im März setzten sie den Honigkuchenteig für Weihnachten an. Der Teig verbringt den Sommer in Eimern im Keller, bis es Ende September mit den ersten Herzen losgeht.