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Drogendealer, Überfälle und Schlägereien. Die Anwohner vom Kottbusser Tor haben genug von der Gewalt.
© Doris Spiekermann-Klaas

Raub und Schläge am Kottbusser Tor in Berlin: Selbst für Kreuzberg zu krass

Seit 30 Jahren gehört das Kottbusser Tor zu den Berliner Problemplätzen. Nun ist es richtig gefährlich geworden. 50 Prozent mehr Überfälle, 100 Prozent mehr Diebstähle. Ex-Hausbesetzer und türkische Gastronomen haben genug.

Ihr nächstes Opfer nehmen die fünf Männer um 13.02 Uhr in den Blick. Dort, wo die zehn Geschosse des „Neuen Kreuzberger Zentrums“ die Adalbertstraße überbrücken. Wo zuletzt wieder viel über Räuber, Dealer und Antänzer gesprochen wurde. Von wo die fünf Männer um 13.03 Uhr wie aufgeputschte Kinder, die alles und jeden anfassen müssen, ein paar Meter zum Kottbusser Tor laufen.

An diesem Wintertag in der Woche flutet die Sonne den Kiez. Die Kreuzberger strömen mit Kaffeebechern in der Hand vom und zum U-Bahnhof Kottbusser Tor. Die fünf Männer sind geschätzte 25 Jahre alt, haben Gel in den Locken und trotz dunklen Teints fallen ihre noch dunkleren Augenringe auf.

Sie tun, was sie gleich tun werden, weil sie niemand aufhält, weil sie die Berliner Polizisten nicht fürchten, die Becherkaffee-Trinker schon gar nicht. Und so schlendert die Clique im Kreis, bis der Lauteste um 13.04 Uhr ungeniert loslegt: Hallo, Zigarette? Nein? Ah, ah, Jacke gut, Jacke schön, wo kaufen?

Nach einer, vielleicht zwei Sekunden ist die Hand des Lauten, der seinem Opfer so viel Nettes über dessen Mantel sagt, in die Außentasche desselben gerutscht, er fischt eine Tüte heraus und verschwindet in den Häuserschluchten. Die Clique wird feststellen, dass sie Hustenbonbons erbeutet hat.

Manche Diebe besprühten ihre Opfer mit Reizgas oder zogen Messer

Diesmal. In den vergangenen Monaten wurden am Kottbusser Tor fast täglich Passanten umringt. Dabei wurden Portemonnaies, Telefone, Handtaschen gestohlen. Klappte das nicht, schlugen die Täter zu, manche besprühten ihre Opfer mit Reizgas oder zogen Messer. Einigen Frauen wurde an den Busen gefasst oder ins Gesicht geschlagen – wie vor einigen Wochen. Oder die Opfer wurden hunderte Meter weit gejagt – wie zum Jahresanfang, als ein rasender Trupp mit Gürteln auf zwei Schwule eindrosch, sie trat, während die zwei Männer in Panik schrien. Von der Hatz gibt es ein Video.

Berüchtigt. Um die Cliquen junger Männer machen viele Anwohner einen Bogen.
Berüchtigt. Um die Cliquen junger Männer machen viele Anwohner einen Bogen.
© DORIS SPIEKERMANN-KLAAS

Seit 30 Jahren gilt das Kottbusser Tor, dieser Kreisverkehr mit zwei U-Bahnlinien, als Problemplatz. Nun sei es noch schlimmer geworden, berichten Anwohner und Gewerbetreibende, Deutsche und Türken.

Stimmt das – oder gibt es nur eine zufällige Häufung der Übergriffe?

Ein Anruf bei der Polizei: Angezeigte Taschendiebstähle? Von 2014 auf 2015 eine Verdoppelung, statistisch gibt’s zwei, drei am Tag. Drogenhandel? Zunahme. Raub? Plus 50 Prozent, 80 Fälle letztes Jahr. Körperverletzung? Ebenfalls ein Anstieg. „Und das sind nicht alle Taten“, sagt ein Beamter. „Viele Opfer sind Touristen, sie machen keine Anzeige, weil sie bald abreisen oder sich nicht die ganze Nacht versauen lassen wollen.“

Dass die Polizei am ohnehin schon verrufenen Kottbusser Tor jetzt noch einmal so viel mehr Straftaten registriert, hängt auch mit dem Wandel in Kreuzberg zusammen. Früher trafen sich am Kottbusser Tor vor allem die Junkies, die bis heute im U-Bahnhof ihr Heroin kaufen und es sich in den nach Urin riechenden Gängen des „Neuen Kreuzberger Zentrums“ spritzen. Und wenn über das Elend im NKZ berichtet wird, fehlt fast nie der Hinweis, dass in diesem 300-Wohnungen-Betonklotz die Satellitenschüsseln vor den Fenstern alle nach Südosten zeigen, weil so viele Bewohner aus der Türkei kommen.

Von den Studenten profitierten auch die türkischen Gastronomen

Dann eroberte Europas akademische Jugend Kreuzberg, für die vergleichsweise einkommensstarken Neulinge modernisierte sich der Kiez. Wo Teestuben und Elektronik-Shops waren, sind Mode-Läden und Restaurants eingezogen. Davon profitieren auch die Kreuzberger Türken und Kurden, ein gastronomischer Mittelstand ist entstanden.

In den einst leeren Ladenzeilen eröffneten Bars; zuletzt der „Multi-Layer-Laden“, der „Südblock“ und die „Fahimi Bar“; „Möbel Olfe“ und „Monarch“ sind seit Jahren beliebt. In der Reichenberger Straße kostet eine 70-Quadratmeter-Wohnung 900 Euro im Monat, doppelt so viel wie 2001.

Damals war der Kaiser’s zum Monatsende, wenn Löhne und Sozialhilfe aufgebraucht waren, oft leer. Jetzt bilden sich jeden Abend lange Schlangen an den Kassen, Mädchen und Jungen, die in Englisch, Schwedisch, Italienisch reden. Sie wollen vom Kotti aus in die Kreuzberger Nacht starten. Überall im Kiez sind Hostels entstanden, wie in den Bars steht dort mehrsprachig: „Achtung Taschendiebe!“

Aber mit der Gentrifizierung scheint nun die Gewalt zu eskalieren.

In der Adalbertstraße sitzt eine Ex-Hausbesetzerin, Anfang 40, in einem Thai-Lokal. Seit der Wende wohnt sie in Kreuzberg, ist Hochschuldozentin und äußert sich nur anonym: „Man kann es drehen und wenden, wie man will. Fest steht, es sind zuletzt bestimmte Flüchtlinge gekommen. Libyer, Marokkaner, Tunesier. Die sind krasser, als es der Kiez verkraftet. Die alteingesessenen Türken nervt das am meisten.“

Die Debatte über importierte Gewalt, sagt sie, habe sich nach der Silvesternacht von Köln zwar verändert. Aber kaum jemand sage es so offen wie sie: Männer aus den halb feudalen Regimen der arabischen Welt sähen im Recht des Stärkeren – gerade Frauen gegenüber – ein Handlungsgebot. „Es gab immer Gewalt. Aber ’ne Treibjagd auf Schwule, das ganze Angrabschen – das ist neu.“

Ein in Kreuzberg geborener Gastronom aus der Oranienstraße – alteingesessener Türke, würde die Ex-Hausbesetzerin sagen – findet deutlichere Worte: „Denen muss man mal eine zimmern. Die werden von der Polizei zu weich angefasst, das schockt die nicht.“ Seine Söhne, sagt der Wirt, dürften nicht am Kotti herumlungern.

Hin und weg. Den Tätern bietet das Neue Kreuzberger Zentrum viele Fluchtwege. Die Banden stammen oft aus Nordafrika.
Hin und weg. Den Tätern bietet das Neue Kreuzberger Zentrum viele Fluchtwege. Die Banden stammen oft aus Nordafrika.
© DORIS SPIEKERMANN-KLAAS

Die Polizei hat eine Statistik zum Taschendiebstahl am Kotti erstellt. Die Täter kommen aus 17 Ländern. Osteuropäer und deutsche Staatsbürger sind dabei. Ganz oben aber stehen Tunesier, Libyer, Marokkaner, Ägypter. Die Zahl arabischsprachiger Täter steigt rasant.

Die meisten Diebe und Räuber kommen davon. Das weiß auch Tanja Knapp. Sie ist Leiterin des zuständigen Polizeiabschnitts. „Zu der am Kottbusser Tor vorhandenen schwierigen Szene“, sagt Knapp, „ist eine neue Spitze gekommen.“ Gemeint sind die Antänzer, jene Männer, die ihre Opfer beim Befummeln bestehlen. Wehren sich die Opfer – oft Frauen – werden die Täter gewalttätig. Die Grenzen zwischen Diebstahl, Raub, Körperverletzung und Missbrauch sind fließend.

Wo die Täter wohnen, ist nicht leicht feststellbar. Bekannt ist, dass einige Verdächtige französische und italienische Aufenthaltstitel haben. Andere besitzen keine Papiere, oder sind in Deutschland registriert: Im Herbst umzingelten drei Männer einen Israeli, dabei stahl ein Ägypter, 22 Jahre alt, dem Touristen das Smartphone. Der festgenommene Dieb wohnte als Flüchtling in Berlin.

Anwohner sagen, dass einige der Nordafrikaner auch dealten. Sie werden, so die Einschätzung in Justizkreisen, von arabischen Clans, die das Geschäft in Berlin dominieren, mit Stoff versorgt. Dabei dürften die verhaltensauffälligen Neulinge bloß mit Haschisch handeln, die erfahrenen Altdealer mit dem teureren Heroin. Koks, oder was dafür gehalten wird, verticken sie aber wohl alle.

Milieukundige Anwälte berichten, einigen der Kriminellen hätten die Clans auch Schlafplätze besorgt. Ein Anwohner sagt, einmal seien herumlungernde Jungs mit einem BMW abgeholt worden.

Nicht ganz klar ist, wer derzeit die Hand auf den Pillen – etwa Valoron – hat. Auch mit denen wird am Kotti gehandelt; vor allem das enthaltene Tilidin dämpft das Angst- und Schmerzempfinden.

„Auf Tilidin“, sagt Ercan Yasaroglu, „würden sie jeden angreifen.“ Yasaroglu ist Sozialarbeiter und Café-Betreiber. Seit den 80ern ist er am Kotti unterwegs. Er kennt die Wirte, Späti-Betreiber, Bezirkspolitiker und Streifenbeamten. Und er hat auch so einen guten Überblick. Dort, wo sich der NKZ-Wohnriegel über die Adalbertstraße schiebt, betreibt Yasaroglu oben auf der Balustrade das bekannte „Café Kotti“.

Von dort blickt er über den Platz, sieht, wenn ein Trupp einer Frau die Tasche entreißt, wenn eine Bande sich auf ein Opfer stürzt. Yasaroglu ruft oft die Polizei und nutzt sein Handy auch, um die Überfälle zu filmen. In einem Nebenraum seines Ladens lädt er zum Kaffee, holt sein Telefon raus, zeigt Aufnahmen brutaler Angriffe. Zu sehen ist etwa, wie Männer auf ihre Opfer einprügeln und auch dann nicht von ihnen ablassen, als sich jemand einmischt.

Kontaktanwohner. Ercan Yasaroglu betreibt das „Café Kotti“ und hat von dort einen guten Überblick. Was dazu führt, dass er regelmäßig die Polizei alarmieren muss.
Kontaktanwohner. Ercan Yasaroglu betreibt das „Café Kotti“ und hat von dort einen guten Überblick. Was dazu führt, dass er regelmäßig die Polizei alarmieren muss.
© Doris Spiekermann-Klaas

Yasaroglu kämpft seit 30 Jahren gegen Vorurteile, er war lange in antirassistischen Initiativen aktiv. Diejenigen, die rauben, schlagen und missbrauchen, sagt er deshalb sogleich, unterscheide von den meisten anderen Flüchtlingen schon das Auftreten. Er kenne Syrer, die vor dem Krieg flohen, scheue, gebrochene Männer und Frauen. Diejenigen aber, die sich seit Monaten vor seinem Café austoben, wirken arrogant, sadistisch, herrschsüchtig. „Das Problem ist“, sagt Yasaroglu vor zwei Wochen, „dass es wirklich viele Typen geworden sind.“ Das Gewühl und Gedränge ermögliche es den Tätern, immer wieder zu verschwinden.

Schon 2009 demonstrierte Yasaroglu zusammen mit anderen Anwohnern – Motto: „Drogen weg vom Kottbusser Tor!“ Vor einem Jahr dann bat er wegen der Überfälle um ein Treffen mit Monika Herrmann, der grünen Bezirksbürgermeisterin. Seitdem gab es tatsächlich mehr Polizeieinsätze. Besser geworden, da sind sich viele einig, ist es nicht. Laut Polizei konnten wegen Straftaten am Kotti nur 55 Verdächtige im Jahr 2015 festgenommen werden. Also helfen sich die Anwohner selbst: Die Wirte und Ladenbetreiber warnen sich über eine Telefonkette. Zieht eine Gang durch den Kiez, rufen sie sich an. Am Wochenende bewachen Türsteher die Bars.

Die Sonne scheint nicht mehr. Langsam wird’s dunkel am Kottbusser Tor. Vor dem NKZ lungert nun eine andere Clique und schaut den Passanten nach. Keiner von ihnen will darüber reden, woher sie kommen oder worauf sie warten. Einen Zwei-Meter-Mann mit Kopfhörern lassen sie vorbeiziehen. Eine Frau mit Kopftuch und Telefon am Ohr auch. Dann bestellen fünf, sechs lachende Italiener im Flachbau vor dem NKZ mehrere Döner. Die Jungen werden wacher, man möchte meinen, sie überlegten, ob sie sich an die Italiener wagen sollen. Wie auf Kommando setzt sich der Trupp in Bewegung. Doch die Italiener, eher der Kälte als einer Vorahnung wegen, setzen sich in den Imbiss, statt vor der Durchreiche zu warten. Der Trupp hat die Chance verpasst. Im Dönerladen achten die Angestellten darauf, dass niemand ihre Gäste bestiehlt.

Das türkische Kreuzberger Kleinbürgertum will am Touristenstrom verdienen. Diebe, zumal so sadistische, stören da. In Justizkreisen heißt es, man habe schon gehört, dass sich einige Gewerbetreibende überlegten, mit einer Bürgerwehr gegen die Nordafrikaner vorzugehen. Dass „gute Männer“ mal „durchgreifen“ sollen.

Droht am Kotti noch Selbstjustiz?

Nein, die Lage sei zwar angespannt, sagt Abschnittsleiterin Knapp. Aber ihre Beamten seien oft am Kotti und sprächen mit Anwohnern und Gastronomen. Sicher, sagt Knapp diplomatisch, mehr Beamte könnten nicht schaden. Ihre Kollegen betreuen ein, nun ja, besonders arbeitsintensives Revier. Der Görlitzer Park, lange als Dealertreff in halb Europa bekannt, gehört dazu. Außerdem das Schlesische Tor, wo die gleichen Banden wie am Kottbusser Tor aktiv sind. Kürzlich stürmte ein Mann am Schlesischen Tor in ein Café, entriss einer Frau die Tasche und rannte in die Nacht.

Nicht jedes Opfer geht zur Polizei. „Wir ermutigen aber alle“, sagt Polizeichefin Knapp, „jede Tat anzuzeigen.“

Der Abend am Kottbusser Tor geht zu Ende. „Am Wochenende ist es schlimmer“, sagt Ercan Yasaroglu noch, „und wenn es erst mal wärmer wird, sowieso.“ Er soll Recht behalten. Am folgenden Wochenende stoppen im U-Bahnhof zwei Männer einen Blinden, reden auf ihn ein, tasten ihn ab. Bald merkt das Opfer, dass das Geld fehlt. Später verfolgen dieselben Täter auf demselben Bahnhof eine Frau. In der Hand halten sie ein Messer. Die Polizei kann die Männer festnehmen.

Nur einen Tag später werden auf dem Bahnsteig zwei Männer angegriffen, einer niedergestochen. Die Täter haben Arabisch gesprochen. Woher die Opfer das wissen? Sie kommen selbst aus Marokko und Algerien.

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