Lärmforscherin der TU Berlin: „Nur wer dazugehört, erträgt den Lärm“
Warum Stones-Fans laute Musik nicht stört, Kinderschreie kein Lärm sind und wann das Gehör Schaden nimmt: Lärmforscherin Brigitte Schulte-Fortkamp über die Grenzen der Belastung in der Party-Stadt Berlin.
Frau Schulte-Fortkamp, waren Sie am Dienstag auf dem Rolling-Stones-Konzert in der Waldbühne?
Nein, warum?
Weil die so laut waren, dass man fragen muss: Ist das nicht Lärmbelästigung?
Das ist eben die Macht der Musik. Wenn man sie mag, ist die Lautstärke nachrangig. Die Neunte von Gustav Mahler schafft es am Anfang spielerisch auf mehr als 100 Dezibel. Das ist ein höherer Schalldruck als Rasenmäher auslösen. Und es ist lauter, als die Versicherer erlauben: Arbeitnehmer dürfen nicht mehr als 85 Dezibel ausgesetzt werden.
Fast schon Körperverletzung also, die Barkeeper in den Clubs hinnehmen müssen?
Da gibt es ein Problem, denn die müssten eigentlich Ohrstöpsel tragen, sonst erlischt der Krankenschutz. Auf den Tanzflächen sind trotzdem 99 Dezibel als Mittelwert zulässig. Aber diesem Lärm setzen sich Besucher ja freiwillig aus.
Sind wir nicht resistent nach vielen durchtanzten Nächten?
Nein, das Gehör kann man nicht durch die richtige Einstellung schützen. Irgendwann verursacht das Schäden. Orchestermusiker leiden öfter an Tinnitus, einem hochfrequenten Pfeifton. Und Druckerei-Angestellte, die Lärmschutz ablehnen, weil sie dann nicht mehr hören können, wenn die teuren Maschinen nicht mehr rundlaufen, riskieren den Verlust des Gehörs im Alter. Eine dauerhafte Belastung durch Lärm macht krank, Herz und Kreislauf sind oft betroffen. Und Kinder leiden an Konzentrationsschwächen.
Trotzdem brüllen wir ab Donnerstag sechs Wochen lang die Mannschaften unseres Herzens bei der WM zum Sieg. Ist das noch Freude oder schon Lärm?
Wenn man dazugehört, kann man vieles ertragen. Aber wer nicht dabei ist, weil er Fußball nicht mag, der hat eben Probleme damit. Die WM-Partys werden noch so einige Konflikte auslösen.
Was empfehlen Sie WM-Muffeln?
Sie sollten daran denken, dass das Turnier vorbeigeht und sie sollten sich eine andere Quelle der Freude suchen. Ich persönlich muss das oft auch, weil ich an der Volksbühne wohne, nicht weit von der Party-Meile. Dort grölen nachts Betrunkene schon mal. Das klingt, als sei alles außer Kontrolle und das empfindet man als bedrohlich. Da komme ich an meine Grenzen.
Wenn Nachbarn beklagen, ein spielender Sohn sei das lauteste Kind im ganzen Kiez – muss man sich da schämen?
Nein, das Kind hat offensichtlich Freude am Leben. Übrigens dürfen Kindergeräusche überhaupt nicht mehr als Lärm bezeichnet werden. Das haben Bundesrichter und auch Gerichte der EU geurteilt. Kinder haben ein Anrecht auf ihre persönliche Entwicklung und darauf, fröhlich zu sein. Trotzdem stören einige Menschen rufende Kinder mehr als bellende Hunde. Das hat mit persönlicher Erfahrung zu tun.
Und wie bewerten Sie die Schallschutzmauer gegen lebenslustige Kinder, die in Dahlem entsteht?
Das ist wohl eher eine soziale Schutzwand, denn Lärm wird so eher nicht abgeschirmt. Wirkungsvoller ist ein Gabionen-Wall aus Steinen, Erde und Pflanzen, wie er am Nauener Platz aufgeschüttet wurde, um Verkehrsgeräusche einzudämmen. Der hat den Autolärm halbiert.
Und was ist zu tun, wenn neben der eigenen Wohnung eine Kita öffnet?
Da helfen nur Vereinbarungen aller Beteiligten. Wir haben solche Gespräche schon erfolgreich moderiert. Die Beteiligten einigten sich etwa auf Ruhezeiten in den Mittagsstunden und lernen, Rücksicht aufeinander zu nehmen.
Und was sagen Sie den Zugezogenen, die am Helmholtzplatz ihre Nachtruhe ab 21.30 Uhr einfordern?
Dass Berlin von Events lebt und man nicht auf ständige Ruhe hoffen darf. Die Klagen sind aber verständlich, denn eine feiernde Runde, zu der man nicht gehört, ist eben für viele schwer zu ertragen. Das gilt aber auch auf dem Lande für die Party im Nachbarhaus. Dieser großen Belastung begegnet man am besten, indem man seine eigene Wohlfühl-Balance findet. Ich bin in Mitte auch an meine Grenzen gestoßen und werde jetzt wegziehen.
Brigitte Schulte-Fortkamp ist Professorin für Akustik an der Technischen Universität Berlin.