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Am Dienstag wurde für den Erhalt des Buchladens demonstriert.
© Jörg Carstensen/dpa
Update

Gentrifizierung in Berliner Oranienstraße: Kreuzberger Kiez-Buchladen „Kisch & Co.“ soll geräumt werden

Dem Räumungsantrag des Luxemburger Eigentümers wurde am Donnerstag stattgegeben. Der Kiez-Buchladen „Kisch & Co.“ kann aber noch Berufung einlegen.

Die Kreuzberger Oranienstraße ohne „Kisch & Co.“ – viele Menschen aus der Nachbarschaft können sich das nicht vorstellen und protestieren seit über einem Jahr für den Verbleib des Buchladens, den es seit 24 Jahren im Kiez gibt. Nun wurde am Donnerstag der Klage des Eigentümers, dem Fonds „Victoria Immo Properties V S.a.r.l.“ mit Luxemburger Adresse, vom Landgericht Berlin stattgegeben - und der Buchladen soll geräumt werden. Er ist seit Juni 2020 ohne Mietvertrag.

Die Zivilkammer begründete ihre Entscheidung damit, dass die Klägerin einen Anspruch auf Räumung der Gewerberäume habe, da der Mietvertrag mit Ablauf des 31. Mai 2020 ausgelaufen sei. Außerdem könnten Vorschriften zum Schutz von Wohnraum nicht auf einen Gewerbemietvertrag angewendet werden. Dies sei im Bürgerlichen Gesetzbuch, Paragraf 578, so festgeschrieben. "Analogien gesetzlicher Vorschriften können nur angewendet werden, wenn eine Regelungslücke vorliegt", sagte ein Richter der Kammer. Eine solche Lücke im Gesetz gebe es laut Gericht im Fall von "Kisch & Co." allerdings nicht.  

Der Rechtsanwalt der Beklagten, Benjamin Hersch, wollte das Gericht in der Verhandlung von der Notwendigkeit überzeugen, das Kündigungsrecht für Mieter:innen einer Wohnung auf jenes von Gewerbetreibenden anzuwenden. Für Gewerbemieter:innen fehle bisher ein ausreichender Schutz, was dazu führe, dass kleine Gewerbetreibende ihre Räume und ihre Existenz verlieren, sagt Hersch. "Uns sind die Hände gebunden", sagte das Gericht dazu. Es sei Aufgabe der Politik, zum Schutz von Gewerbetreibenden tätig zu werden und Gesetze zu ändern. 

Die zwei rechtlichen Vertreter:innen des Fonds waren bei der Verhandlung im Saal nicht anwesend, sie waren virtuell aus Frankfurt am Main zugeschaltet und äußerten sich nicht. „Das Gericht hat der Gegenseite die Möglichkeit gegeben, der Sitzung per Bild- und Tonübertragung zu folgen“, hatte Rechtsanwalt Hersch vor der Verhandlung mitgeteilt. Das Dazuschalten der Parteien sei in Coronazeiten durchaus gängig, informierte der Pressesprecher des Kammergerichts dann vor Ort. 

„Kisch & Co.“ kann gegen die Entscheidung des Gerichts innerhalb eines Monats Berufung einlegen. Darüber würde sich Hersch mit seinen Mandanten beraten, sagte Hersch nach der Sitzung. Allerdings ist das Urteil nach Zustellung schon "vollstreckbar", das heißt, die luxemburgischen Vermieter könnten schon vorher räumen lassen. Verhindern könne die Beklagte das nur durch Hinterlegung einer "Sicherheitsleistung", die Rede war von 60.000 Euro.

Inhaber: "Geht um einen Kultur- und Sozialstandort"

Buchladen-Inhaber Frank Martens appellierte bei der Verhandlung an die Sozialverpflichtungen der Klägerin. "Wir wollen im Sommer 2022 das 25. Jubiläum von Kisch & Co. in der Oranienstraße feiern", sagte er. Dazu wolle man nach dem Gerichtstermin die ersten Einladungen verteilen. Natürlich gehe es um die Existenz des Buchladens, aber auch um mehr: "um den Erhalt des gesamten Kultur- und Sozialstandorts Oranienstraße 25".

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Martens meint damit auch andere Parteien in der Oranienstraße 25, bei denen die Mietverträge ausliefen. Kein:e Mieter:in im Haus könne die angestrebten Mieterhöhungen bezahlen - laut Martens zum Teil das dreifache der Miete. "Ich wünsche mir, dass es möglichst schnell eine Gesetzesänderung gibt, damit Mieter nicht mehr so einfach entmieten kann", so der Buchladen-Inhaber.

Bei der Verhandlung waren nur zehn Personen von Pressevertreter:innen und Zuschauer:innen im Gerichtssaal zugelassen. Buchladen Inhaber Thorsten Willenbrock fühlte sich durch die verschärften Sicherheitsauflagen kriminalisiert, wie er dem Tagesspiegel sagte. Zu den Gründen, warum die Verhandlung zur Räumungsklage in einem Hochsicherheitssaal im Kriminalgericht Moabit stattfinden musste, äußerte sich das Gericht vor dem Termin nicht. "Der Prozess führt zu großem Aufruhr in der Öffentlichkeit und wir müssen darauf regaieren", sagte ein Richter der Kammer im Verhandlungssaal. Des Weiteren verwies er zur Begründung der Zulassungsbeschränkungen auf die Pandemie-Situation. 

Protest vorm Gericht: eigene Verhandlung als Performance

Trotz Zulassungsbeschränkung waren zahlreiche Unterstützter:innen von "Kisch & Co." gekommen: bereits ab 9 Uhr protestierten sie vor dem Kriminalgericht und führten in einer Performance eine eigene Gerichtsverhandlung vor. In dieser Version musste die Klägerin des luxemburgischen Fonds bei der Verhandlung in persona anwesend sein. Das Urteil der Performer:innen lautete: Räumungsverbot. 

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Wer die Eigentümer:innen des Fonds sind, weiß Thorsten Willenbrock nicht. Er selbst habe immer nur mit der Hausverwaltung und den Anwält:innen kommuniziert. Lediglich zwei wirtschaftliche Miteigentümer:innen sind bekannt. Von ihnen könnte es aber noch einige mehr geben. Die „Victoria Immo Properties V S.a.r.l.“ wurde im Januar 2020 im Firmenregister von Luxemburg angemeldet, kurz nach dem Erwerb des Buchladens. Das Firmengeflecht ist verzweigt, mindestens zehn verschiedene Victoria Immo Properties haben dieselbe Adresse: die Rue Louvigny 1.

Der Daten-Analyst Christoph Trautvetter vom Netzwerk „Steuergerechtigkeit“ war bei seinen Recherchen, wer hinter dem Fonds steckt, über den Agrarkonzern „Ingleby Farms & Forest“ auf die Rausing-Erb:innen gestoßen.

Die skandinavischen Milliardärsfamilie verdankt ihr Vermögen der Erfindung des Tetra Paks. Bei einer Kontaktaufnahme mit Sigrid Rausing teilte die Verlegerin dem Buchladen-Inhaber mit, keinen Einfluss auf die Verwaltung des Fonds zu haben.

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