Berliner Wurzeln: Keine ganz normale Familie: Die Wölffers, Theaterclan vom Ku'damm
Die Wölffers bringen in der dritten Generation Theaterdirektoren hervor. Ihre Bühnen am Ku’damm – sie brachten der Stadt Glanz, politische Relevanz und Amüsement.
Rita Steinbach ist auch da. 38 Jahre lang Sekretärin am Theater am Kurfürstendamm. Jetzt befreundet mit der ehemaligen Frau Direktor. „Die löst mein Haus auf, wenn ich einmal tot bin“, sagt Ingeborg Wölffer. Denn warum soll man immer sagen „von uns gegangen“ oder sonst etwas Verniedlichendes, wenn man doch das Sterben meint?
Ingeborg Wölffer wandert in die Küche, zerteilt alle Kuchenstücke in drei Teile, tritt durch einen riesigen Wandschrank wie in einem Theatertrick direkt hinüber in das Wohnzimmer mit dem Flügel und der Aussicht auf den Pflaumenbaum und behauptet steif und fest, 85 Jahre alt zu sein.
In diesem Alter könne man getrost die letzten Dinge in Angriff nehmen. Jetzt ist sie dabei, zu sortieren: die Familie, das Theater, die Premierenkleider, die Fotos und Tagebücher. Kommen Sie mit, sagt Wölffer, und lupft ein Chanel-Kleid aus den 60ern aus dem Schrank, säuberlich eingeschlagen in Folie. Daneben knistert ein strassbesetztes Seidenkleid, Couture-Schnitt, perfekter Zustand, ein Schild mit „Museum“ daran.
Theatermenschen haben einen erweiterten Familienbegriff
Theatermenschen haben einen erweiterten Familienbegriff. Und sie hätten immer „ungeheure“ Sekretärinnen gehabt im Theater, die erst Freunde und dann Teil der Familie geworden sind. Erst die Bröse, dann die Grothe und hier in Dahlem sitzt nun auf dem graublauen Sofa, in dem schon Lee Strasberg und Ingrid Bergmann versunken sind, die Steinbach.
Ingeborg Wölffer, neben ihr, ist die Witwe von Hans Wölffer, jenem Theaterdirektor, der 1933 bis 1942 und dann wieder nach dem Krieg Theater und Komödie am Ku’damm übernahm, die erste Generation von inzwischen dreien. Hans, der feine „Herr“ mit großer Nase, „meinem Riecher für Erfolg“. Dann kam Jürgen, der Schauspieler, der zur Not Harald Juhnke ersetzen konnte. Seit zehn Jahren führt das Haus Martin Woelffer, der das Programm verjüngte. Und weil jeder von ihnen zwar Teil der Familie, aber doch auch er selbst ist, führte jeder eigentlich ein ganz anderes Theater in einem ganz anderen Berlin.
Jede Generation hat ihre Zeit. Die von Ingeborg Wölffer hat geschillert, seit sie 1949 während einer Theatertournee zum ersten Mal Schlagsahne aß. „Wir waren ja arm“, sagt Wölffer.
„Ja, aber alle waren arm“, sagt Rita Steinbach. „Und es ging immer nur aufwärts.“
„Das stimmt“, sagt Wölffer. So habe sich der glanzvolle Aufstieg für alle ganz natürlich angefühlt. Sie fingert ein Foto aus einem Rahmen: Dort steht sie neben dem US-General Lucius Clay bei der Premiere von „My Fair Lady“, 25. Oktober 1961. Es sei das erste Mal gewesen, dass alle vier Stadtkommandanten zusammentrafen, „das größte gesellschaftliche Ereignis nach dem Krieg“. Das Theater hatte politische Relevanz und das Kleid, das sie damals trug, ist schon in der Theatersammlung der Stiftung Stadtmuseum.
Die Frau Direktor war modisch auf der Höhe
Die Frau Direktor war modisch auf der Höhe, politisch am Puls, eine Zeitung titelte „Die eleganteste Frau Berlins“. 1962 war sie die Tischdame von Thornton Wilder, das schrieb sie mit blauer Tinte in ihr Tagebuch. Bei der Eröffnung der Russischen Botschaft unter den Linden hatten die Kaviarschüsseln 50 Zentimeter Durchmesser. Als die Herren später mit feuchten Anzügen das Haus verließen, suppte aus ihren Sakkotaschen der Kaviar.
Es gab Kaviar - später tropfte er den Herren aus der Sakkotasche
Nach dem Mauerbau sei ihnen Gott sei Dank schnell die Idee mit der Luftbrücke gekommen, der Zuschauer-Luftbrücke nach Hamburg. Im Paket ein Flug, eine Übernachtung, eine Theaterkarte. Zwar konnte eine Hälfte Berlins nicht mehr kommen, aber die Zuschauer aus Hamburg flogen jetzt auf das Theater. Zu den Weihnachtsfeiern in Berlin verschenkte die Frau Direktor ans Personal Geflügelscheren, von denen Rita Steinbach noch heute eine in Ehren hält.
„Die bescheidenen Feiern, die noch im Büro stattfanden, waren die besten.“
„Bescheiden nennst du das? Ich habe mich immer so abgestrampelt.“
Ihr Hans, sagt Ingeborg, der hatte bei allem einen guten Instinkt. Der sagte „wir sind noch mit jedem Erfolg fertig geworden“. Fotos zeigen ihn immer mit konzentriertem Blick. Seine Frau begegnete den Anforderungen ihrer Zeit mit Tellerröcken und Kellerfalten. Mit handgerollten Säumen und gradlinigen Schnitten. Sie trug Kleider für 1000 Mark nur einen Abend zur Premiere. Sie war Anfang zwanzig und Frau Direktor.
Und Frau Direktor packte mit an. Sie schippte bei einem Rohrbruch Wasser, so dass die abendliche Vorstellung zwar auf nassen Sitzpolstern, aber stattfinden konnte. Sie weiß gar nicht mehr genau, warum sie selbst die Schauspielerei irgendwann aufgab, „das war ein Fehler“.
Die Wölffers sind keine sesshaften Menschen
Aber bloß, weil das Theater eine Institution für Berlin war, muss man sich die Wölffers nicht als sesshafte Menschen vorstellen. Die reisten mit der ganzen Familie nach New York, nach Paris, Zürich und London, wo sie mit Verlegern um Texte und mit Intendanten um Tourneeauftritte verhandelten. Berlin mochte eine Insel sein, aber die Wölffers dachten international. Hans Wölffer baute ein Haus in Westend, doch zur Erholung fuhren sie in ihr Ferienhaus bei Saint-Tropez.
Auf dem Weg dorthin machten sie Halt in Lausanne, um „die Bröse“ zu besuchen, die Sekretärin, die den ganzen Krieg hindurch einen befreundeten Wertheim-Erben in einem Hausboot versteckt hielt, ihn am Ende heiratete und nun selbst eine Wertheim geworden war.
Als Hans Wölffer Ende der 40er ein Auge auf die 18-jährige Ingeborg warf, war er schon zwei Jahre geschieden. Seine Söhne Jürgen und Christian waren 12 und sechs. Die Mutterrolle war ausgeschlossen. „Ingeborg glaubt immer noch, dass ich der eigentliche Erfinder von Schiebetüren bei Autos sei“, sagt Jürgen Wölffer, inzwischen selbst 77. Er hat sich nämlich zuallererst für Konstruktion interessiert, und als Schüler kleine Autos mit Einzelradaufhängung gebaut.
Man muss die zweite Generation Wölffer im Restaurant „Dressler“ treffen, das am Ku’damm zwischen der Komödie und dem Theater klemmt. „Ich wollte ja gar nicht zum Theater“, sagt Jürgen Wölffer, immerhin Direktor von 1976 bis 2004. „Da ging es mir wie meinem Sohn. Der wollte auch nicht.“
Aber wie es so kommt. An seiner Hose baumelt ein erklärungsbedürftiger Schlüsselbund: Neben den Schlüsseln für sein Berliner Zuhause hängen dort noch die für vier Bühnen: für Theater und Komödie am Ku’damm, für das Winterhuder Fährhaus in Hamburg und für die Komödie Dresden. Ihr Gewicht spürt er ständig. Es drückt ihn in der Leiste.
„Ich hatte die fetten Jahre“, hatte ihm der Vater Hans vor seinem Tod 1976 gesagt. „Nicht, dass du jetzt die mageren kriegst.“ Doch Jürgen bekam einfach ganz andere Jahre. Ein ganz anderes Berlin. Die Harald-Juhnke-Zeit. „Es kam das Fernsehen.“ Die Fernsehteams saßen in den Logen und zeichneten auf. Samstags zur besten Sendezeit blickte Deutschland auf seine Bühne. Und während die Komödie das bekannteste Theater des Landes wurde, wurden die Schauspieler Stars – „und kassierten Fernsehgagen“.
Es war die Zeit, „als die Berliner Gesellschaft aus Brigitte Grothum und einem Friseur bestand“, spottet Jürgen Wölffer. Bild-Reporter versteckten sich unterm Tisch, um ein Gespräch mitzuhören. Harald Juhnke trank zu viel.
Schauspieler kann man beschäftigen - oder gleich heiraten
„Ich habe viel gespielt, wenn Juhnke unpässlich war“, sagt der Ex-Direktor, selbst ausgebildeter Schauspieler, der bis zur Übernahme des Boulevardtheaters nur klassische Rollen annahm. Wenn der Chef nun auf der Bühne auftauchte, wusste natürlich niemand, dass Juhnke bei ihm zu Hause auf dem Sofa lag, um auszunüchtern. Vorher hatte er noch Wölffer seine Rolle abgehört.
Die Familie hat ja ein osmotisches Verhältnis zu ihren Schauspielern, alle Direktoren haben eine geheiratet. „Man muss seine Chancen wahren“, hat ihm sein Vater immer gesagt. Und das eher unternehmerisch gemeint.
Jürgen Wölffer erinnert sich an eine Fahrstuhlfahrt mit seinem Vater zu einer wichtigen Geschäftsverhandlung. „Wir haben alle Trümpfe in der Hand. Jetzt wirst du mal sehen, wie man damit umgeht.“ Auf dem Weg zurück standen sie im selben Fahrstuhl. „Aber Papa, du bist ja gar nicht zu Wort gekommen!“ – „Meine Waffe ist meine Bescheidenheit“, habe er da gesagt.
Seine Söhne waren aus anderem Holz
Seine Söhne waren aus anderem Holz. Christian war der kleine Bruder, der immer älter ausgesehen hat und mit Grit Böttcher zusammen war. Er hat selbst Regie geführt und auch mit seinem Bruder auf der Bühne gestanden. Er hat noch Geschäftsanteile am Theater und ein Kapitänspatent.
„Mein Vater war eine Respektsperson. Ich habe mich immer als Kollegen verstanden“, sagt Jürgen Wölffer. Er konnte mit den Leuten reden und war stolz darauf, nie einen Anwalt zu brauchen. Aber sein diplomatisches Meisterstück war privater Natur. Er hat seinem Schauspieler Wolfgang Spier die Frau ausgespannt. Nicht nur, dass es ohne Rechtsanwalt abging, noch besser: Spier bewies Größe und war Trauzeuge bei seiner Hochzeit mit der Schauspielerin Christine Schild. „Ich habe keine Feinde, weil ich keinen Charakter habe“, seufzt Jürgen Wölffer.
„Es fühlte sich ganz natürlich an“, sagt die erste Generation Wölffer auf dem Dahlemer Sofa über das Theater ihres Lebens. „Es ist ein Glück“, sagt die zweite. „Ein Irrsinn, eigentlich“, sagt die dritte.
Martin Woelffer, der nun seit zehn Jahren Direktor ist, haderte lange mit dem Theater, das Programm fand er verpupt. Und das „oe“ ist jetzt kein Tippfehler. Um von der Familie unabhängig zu werden, unternahm er mehrere Dinge. Er ging nach Madrid, um dort zu studieren. Er gründete 1990 eine kleine eigene Bühne, das „Magazin“. Und er behielt als Einziger das oe statt des ö in „Wölffer“, das die Familie einer alliierten Schreibmaschine ohne Umlaute zu verdanken hatte.
„Aber man kann vor der Lebensaufgabe, die ja eigentlich die ganze Zeit da liegt, nicht weglaufen.“ Auch MartinWoelffer, dritte Generation, 50, sitzt deshalb nun im Restaurant Dressler, eingeklemmt zwischen den Bühnen, seit mehr als 90 Jahren von der Familie bespielt. Niemand würde heute mehr ein Theater eröffnen, sagt Woelffer. „Irrsinn – ein derartiges Risiko. Weil das Projekt nicht auszurechnen ist.“
Boulevard hört sich ja immer so leicht an. Aber das Theater ist ein Riesentanker, den der Direktor irgendwo zwischen Markt und Muse manövrieren muss. Und am Steuer steht kein ausgebildeter Wirtschaftsfachmann, sondern ein Künstler, der auch die unternehmerischen Entscheidungen fällt.
Dass auch er sich da hineinwerfen musste, wurde Martin Woelffer klar, als 1988 plötzlich sein kleiner Bruder starb. Der schlaue, vielversprechende Junge, Michael, den man tot in einem Wiesbadener Hotelzimmer fand. Martin überbrachte seinem Vater die Nachricht und sagte noch draußen auf der Treppe, dass der nun auf ihn zählen könne.
Die Familie, sagt Martin Woelffer, rückte enger zusammen. Sechs Jahre später starb seine Mutter in ihrer Wohnung in New York, merkwürdig unglücklich gestürzt. Freunde kamen ums Leben. Da hatte sich die ganze Familie auf das leichte Fach spezialisiert – aber das Leben hinter den Kulissen war von einem Lustspiel weit entfernt. Irgendwann kam Martin Woelffer zur Gestalttherapie, „weil ich anfing, mit dem Tod zynisch umzugehen“. Er machte eine Familienaufstellung und hat diese Arbeit neben seiner Tätigkeit als Theaterdirektor verfolgt. Bis zum Zertifikat. Heute bietet er selbst Aufstellungen an.
Tod und Trauer - das echte Leben ist kein Lustspiel
„Meine Eltern haben 68 gelebt, bevor 68 da war“, sagt Martin Woelffer. Die Jungs sind mit der Mutter und ihrem neuen Freund verreist. Trotzdem erinnert er sich an die Story einer Boulevardzeitung „Heile Welt in heilen Bildern“, als sie bei ihnen zu Hause noch die glückliche Familie inszenierten. „Da waren meine Eltern längst getrennt“. Er fand das verlogen. Als eigentlichen Skandal empfand er nicht, dass es hinter den Kulissen so frei zuging, sondern dass für die Öffentlichkeit gespielt werden sollte.
2004 wurde es ernst. Er erinnert sich, wie er mit seinem Vater nach Frankfurt zur Deutschen Bank, dem Eigentümer des Gebäudes, fuhr. Wie man ihnen mitteilte: In einem halben Jahr wird das Theater abgerissen. Woelffer glaubte, Schadenfreude herauszuhören. Als sie dann nachher im Auto saßen, war klar: Es gibt nur einen Weg. Verjüngung des Boulevard. Und zwar genau jetzt. Als Lebenszeichen nach außen. Die dritte Generation musste übernehmen.
Der Ku’damm: ein Ort für den Autokorso und für Stiletto-Rennen
Seitdem, zehn Jahre ist das her, schlägt sich der jüngste Woelffer in seinem Berlin der Gegenwart herum, wo der Ku’damm ein Ort für den Autokorso und für Stiletto-Rennen geworden ist. Er führt das Privattheater mit den meisten Besuchern, aber sie haben mit 1,05 Euro pro Besucher die geringste Subvention. Die Abrisspläne der wechselnden Investoren, die den hässlichen 70-er-Jahre-Komplex um die alten Theater herum besitzen, sind zum ewigen Begleiter geworden. „Nach jeder neuen Abriss-Ankündigung konnten wir den Knick im Kartenverkauf verfolgen.“ Denn Reiseveranstalter, die sehr lang im voraus planen, ordern keine Karten für ein womöglich nicht mehr vorhandenes Haus.
Irgendwann hat Martin Woelffer begriffen, dass er auf die wechselnden Ideen der Investoren kaum Einfluss hat. Da konnte er sich auch genauso gut wieder um die Stücke kümmern.
Mittwoch vergangener Woche war die Premiere zur Wiederaufnahme des Selbstläufers „Ziemlich beste Freunde“. Der Direktor führte selbst Regie. Die Garderobiere in ihrem blauen Kittel nimmt den Mantel entgegen, wie sie das seit 48 Jahren tut. Sie kam am gleichen Tag auf die Welt wie Harald Juhnke. Dann hebt sich der Vorhang.
Es gebe, hatte Martin Woelffer gesagt, in der Familie einen Spruch dafür, wenn einer dazugehört. Sie sagen dann: „Der darf mitkommen, wenn’s losgeht.“ Wenn was losgeht? „Keine Ahnung“, sagt er lachend. Aber wer es hört, ist dabei.