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Kinder, die zu früh eingeschult werden, sind manchmal einfach noch nicht in der Lage, konzentriert dem Unterricht zu folgen. Sie wollen lieber spielen. Und das ist auch gut so.
© dpa

Die Angst einer Mutter vor der "Extrarunde": Hilfe, meine Tochter fällt durch!

"Wir machen Ihre Tochter richtig fit", sagte die Lehrerin. Deshalb sollte sie noch ein Jahr in Klasse 2 verweilen. Aber unsere Autorin heulte, aus Angst, das Kind könnte als Loser gelten. Hier schreibt sie auf, warum es so schwierig war, dem richtigen Bauchgefühl zu folgen.

Kürzlich saß ich während des Elterngespräches im Klassenzimmer unserer Zehlendorfer Schule und heulte. Gerade hatten wir, mein Mann und ich, der Klassenlehrerin unserer Tochter mitgeteilt, dass wir einverstanden seien. Einverstanden damit, dass unser Kind noch ein Jahr in der Schulanfangsphase (Saph), in der Erst- und Zweitklässler gemeinsam lernen, „verweilt“. Verweilen heißt es heutzutage weichspülerisch und nicht mehr sitzenbleiben. Meine Tochter tat mir ja so leid! Nicht in die 3. Klasse versetzt werden! Ihre Freundinnen verlieren! Als Loser gelten! Nochmal ahnungslosen Erstklässlern beim Buchstabieren helfen müssen! Ich hatte Angst vor ihrer Reaktion.

„Wir machen ihre Tochter richtig fit!“, sagte die Lehrerin. „Es wird ihr guttun!“

Und wir erfuhren, dass noch ein Mädchen in der Saph verweilen würde. Eines, das unsere Tochter gerne mag. Und dass es durchaus noch mehr Kandidaten gäbe, denen es ebenfalls gut tun würde, dass aber die Eltern dies nicht wollten. Außerdem versuchte mich die Lehrerin zu trösten, indem sie erzählte, dass es ihr auch so ergangen sei. Mit Tränen und Zähneklappern habe sie sich vor Jahren dazu durchgerungen, ihre Tochter zurückstellen zu lassen.

Nach der Entscheidung habe sie abends mit ihrem Mann eine Flasche Rotwein aufgemacht und sei am nächsten Morgen mit großer Erleichterung und der Gewissheit aufgewacht, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.Schon während des ersten Schuljahres hatte die Lehrerin darauf aufmerksam gemacht, dass unser Kind im Unterricht zu wild, zu verspielt, zu unkonzentriert, zu desinteressiert und oft zu müde sei. Ich weiß noch, dass mich das kalt erwischte. Denn ich hatte damit gerechnet, dass Schule für unsere Drittgeborene, die von zwei älteren Brüdern ja eine Menge mitbekommt, easy sein würde. Schule ist aber nicht easy. Unsere Tochter ist easy! Sie sieht nämlich überhaupt nicht ein, dass es sinnvoll ist, zur Schule zu gehen.

"Muss das sein", fragte der Kinderarzt stirnrunzelnd

Warum denn? Es ist viel spannender auf Bäume zu klettern, im Wald zu spielen, schöne Steine zu sammeln, Käfer zu fangen, Vögel zu beobachten, Tunnel zu buddeln, Hütten zu bauen...

Dabei, erklärte die Lehrerin, sei die Kleine überaus liebenswert und fröhlich, also kein „nerviges Störerkind“. Sie riet mir, vermutlich weil sie ratlos war, die Tochter vorsichtshalber mal auf ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) testen zu lassen. Da klappte in meiner Hosentasche ein imaginäres Messer auf. „Mein Kind frisst kein Ritalin!“, entgegnete ich vehement. Allerdings erklärte ich mich bereit, es mit Ergotherapie zu versuchen.

„Muss das denn sein?“, fragte unser Kinderarzt stirnrunzelnd, als er den Schein dafür ausstellte. Er betreut unsere Kinder nun seit fast 15 Jahren. „Die Kleine ist doch völlig normal!“

"Was haben Kinder doch für feine Antennen für die Ängste ihrer Eltern. Im besten Fall geht damit ein feines Gespür für das einher, was ihnen guttut", meint unsere Autorin
"Was haben Kinder doch für feine Antennen für die Ängste ihrer Eltern. Im besten Fall geht damit ein feines Gespür für das einher, was ihnen guttut", meint unsere Autorin
© dpa

„Klassischer Fall von zu früh eingeschult“, analysierte die Ergotherapeutin. Und in der Tat ist unsere Tochter mit die Jüngste in der Klasse. Mit fünf eingeschult, wurde sie erst Ende Oktober des 1. Schuljahres sechs. Vor der glorreichen Schulreform, die uns die Saph und das vorgezogene Einschulungsalter bescherte, hätte sie gar nicht eingeschult werden dürfen. Die Ergotherapeutin arbeitete einige Monate allein mit unserem Kind, machte Konzentrations- und Feinmotorik-Übungen genauso wie Bewegungsspiele.

Unsere Tochter ging gerne hin, am besten gefiel es ihr, die Kletterwand zu erklimmen, an Seilen zu schwingen, rittlings auf dem großen Ball zu hopsen. Danach folgte einige Monate lang ein „Attentioner-Training“, bei dem vier Kinder unter der Anleitung zweier Ergotherapeuten in Sachen Konzentration geschult werden. Immer wenn wir uns auf den Weg dorthin machten, maulte mein Kind. Es kam aber am Ende der Stunde gutgelaunt aus dem Übungsraum heraus. Hat es also was gebracht? Unsere Tochter, der Wildfang, ist ein wenig ruhiger geworden. Sagt auch die Lehrerin. Meine Mutter meint, ihre Enkelin sei einfach älter geworden und das Gehirn reifer. Und vermutlich liegt die Wahrheit, wie so oft, irgendwo dazwischen.

"Mein Bauch wusste längst, was richtig ist"

Allerdings ist nicht eingetreten, was ich erhofft hatte. Meiner Tochter fällt die Schule nicht merklich leichter, geschweige denn, dass sie freudig hingeht. Sie hat Lücken in Mathe wie in Deutsch. Dabei kann sie gut lesen. Sie mag die Fächer Sport und Sachkunde, denn sie bewegt sich gern und weiß eine Menge über Tiere und Pflanzen.

Was also war zu tun? Noch mehr Zeit in die Erledigung der Hausaufgaben und ins Üben investieren, wobei dies schon mal in „geistigen Nahkampf“ ausarten konnte? Wer kennt das nicht! Oder es - so wie andere Eltern, die ebensolche Probleme haben - mit Power-Lernen und Nachhilfe versuchen? Jetzt schon in der 2. Klasse? War es denn wirklich unsere Aufgabe, das zu leisten, was die Schule hier offensichtlich nicht zu leisten vermochte?

Ich sprach mit einer guten Freundin darüber. „Was wäre denn der kleinere Fehler?“, gab sie zu Bedenken. Das Kind ein weiteres Jahr in der Saph verweilen zu lassen, damit es richtig schreiben und rechnen lernt? Wohltuend für die Tochter wie auch für den Familienfrieden? Oder sie in die 3. Klasse schieben, auf einen Entwicklungssprung in den Sommerferien hoffend und darauf, dass der Knoten platzt? Dabei das Risiko in Kauf nehmen, dass sich das Kind Jahr um Jahr in die nächste Klasse quält, weil es in der Entwicklung immer ein wenig hinten dran ist?

Die Kleinsten sind heutzutage schon sehr früh gefordert und stehen dadurch unter Druck. Muss gar nicht sein - und schon gar kein Ritalin!
Die Kleinsten sind heutzutage schon sehr früh gefordert und stehen dadurch unter Druck. Muss gar nicht sein - und schon gar kein Ritalin!
© dpa

Plötzlich wurde mir klar, dass mein Bauch schon längst wusste, was richtig ist. Nur mein Kopf ließ nicht locker. Unaufhörlich ratterten die Gedanken durch mein Hirn. Ich sah meine Tochter weinen, leiden und abseits stehen. Und dann sah ich mich weinen, leiden und abseits stehen – damals als ich klein war, in meiner Schule. Und mit einem Mal musste ich mir eingestehen, dass es meine Ängste waren und nicht die meines Kindes, die mich quälten.

Ich wollte es der Tochter behutsam beibringen. Auf einem Spaziergang, bedächtig meine Worte abwägend, die Kinderhand in meiner Hand, sagte ich: „Schätzchen, Papa und ich sind der Ansicht, dass es besser für dich wäre, wenn du noch ein Jahr in der Saph bleiben würdest.“

Bang wartete ich auf die Reaktion.

„Okay, Mama“, hörte ich das Kind sagen.

Okay Mama? Das war alles? Keine Tränen, keine Wut, kein Geschrei?

„Weißt du“, fügte sie hinzu, „ich wollte dir das auch schon vorschlagen, weil es mit Rechnen und Schreiben ja nicht so gut klappt. Aber ich habe mich nicht getraut.“

Ich war baff.

„Warum denn nicht?“, wollte ich wissen.

„Ich wollte nicht, dass du traurig bist.“

„Aber...“, fing ich an.

„Kann ich jetzt schaukeln gehen?“, fragte das Kind. „Da vorn ist der Spielplatz.“

„Moment mal“, bremste ich, „wollen wir nicht noch richtig darüber reden?“

„Nö!“, rief das Kind und rannte los.

Die Autorin ist Schriftstellerin und lebt mit ihrer Familie in Berlin-Zehlendorf.
Die Autorin ist Schriftstellerin und lebt mit ihrer Familie in Berlin-Zehlendorf.
© Dieter E. Hoppe/Promo

Was haben Kinder doch für feine Antennen für die Ängste ihrer Eltern. Im besten Fall geht damit ein feines Gespür für das einher, was ihnen guttut. Dieses Gespür, auch Instinkt genannt, sollten wir ihnen nicht austreiben, nur weil wir selbst - vor lauter Kopf-Entscheidungen - verlernt haben, darauf zu hören.

Am Abend dieses denkwürdigen Tages öffneten mein Mann und ich eine Flasche Rotwein und beim Aufwachen am nächsten Morgen war sie tatsächlich zu spüren: die große Erleichterung mitsamt der freudigen Gewissheit, es richtig zu machen. Merke: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.

Nicki Pawlow ist Schriftstellerin und lebt mit Ihrer Familie in Zehlendorf. Der Text erscheint auf Tagesspiegel-Zehlendorf, dem digitalen Stadtteil- und Debattenportal aus dem Berliner Südwesten. Wenn Sie Anregungen haben oder selbst Texte schreiben wollen, wenden Sie sich gerne an zehlendorf@tagesspiegel.de

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