Minderjährige Flüchtlinge in Berlin: "Es brennt an allen Stellen"
Alle zwei Tage stehen 15 weitere minderjährige Flüchtlinge ohne Eltern vor der Tür der Aufnahmestelle in Zehlendorf. Bald brauchen 500 einen Vormund. Grünen-Stadträtin Christa Markl-Vieto sagt, warum das Jugendamt dringend Hilfe braucht.
Das Jugendamt Steglitz-Zehlendorf hat im Tagesspiegel am Mittwoch an die Bürger appelliert, ehrenamtliche Vormundschaften oder Pflegelternschaften für minderjährige Flüchtlinge ohne Eltern anzunehmen. Wie war die erste Resonanz?
Sehr gut. Allein in den ersten zwei Tagen nach dem Aufruf hatten wir 100 Rückmeldungen von Bürgern, die sich für eine ehrenamtliche Vormundschaft interessieren und 25 weitere, die über eine Pflegeelternschaft nachdenken. Übrigens nicht nur aus Zehlendorf, dem Bezirk oder Berlin, sondern aus ganz Deutschland.
Trotzdem ist die Situation dramatisch.
Stand Dienstag hatten wir 406 Mündel, sie können davon ausgehen, dass alle zwei Tage rund 15 unbegleitete Jugendliche dazukommen, für die wir in Zehlendorf als zentrale Stelle von den Gerichten als Vormund bestellt werden.
Vielleicht erklären Sie kurz, bevor wir auf die akute Lage eingehen, welche zentrale Aufgabe der Bezirk Steglitz-Zehlendorf bei der Erstaufnahme von diesen jungen Flüchtlingen übernimmt.
Gern. Diese Aufgabe der Vormundschaft und der Übernahme der damit einhergehenden Aufgaben war immer schon zentral geregelt im Land Berlin, und sie war immer gebunden an die Erstaufnahmestelle. Ursprünglich war es Treptow-Köpenick, dann Pankow, und seit rund sechs Jahren sind die Amtsvormünder in der Wupperstraße in Zehlendorf.
Was genau ist die Aufgabe?
Steglitz-Zehlendorf nimmt für alle Kinder, für die wir als Vormund bestellt sind, die gesamten Aufgaben der elterlichen Sorge war. Jeder jugendliche Flüchtling, das ist gesetzlich geregelt, muss einen Vormund bekommen. Außerdem ist es sinnvoll, dass erfahrene Vormünde die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge und ihre Interessen im Rahmen eines Asylantrags beraten und vertreten. Der Vormund kümmert sich konkret etwa um Gesundheitsfragen, um das Asylverfahren und um die Unterbringung, die er beim Jugendamt beantragen muss. Letztlich sollte es auch einen persönlichen Kontakt geben, der Gesetzgeber schreibt einen persönlichen Kontakt einmal im Monat vor.
Wie war die Situation, bevor die Zahl der Flüchtlinge immer schneller gestiegen ist?
Auch schon sehr belastend, weil beispielsweise früher rund ein Drittel der Ankommenden gesagt haben, sie seien minderjährig, obwohl sie es nicht waren.
Dieser Missbrauch ist Vergangenheit?
Im Augenblick ja. Jetzt kommen auch die unbegleiteten Flüchtlinge aus den Ländern Kriegsgebieten, wir können auch bestätigen, dass etwa die Zahl der Ankommenden aus den Balkan-Ländern zurückgeht. Grundsätzlich sind die minderjährigen Flüchtlinge jünger.
Wie kommen diese Jugendlichen hier an?
Meist wie andere: über die Schlepperbanden, über die üblichen Routen, jetzt den Balkan, aber auch Italien. Mit dem Flugzeug kommt kaum noch jemand, dafür brauchen sie gültige Papiere.
Gibt es einen Altersdurchschnitt?
Die meisten sind so um die 16 Jahre, es kommen wenige Kinder. Die jüngsten sind eher 12 oder 13 Jahre. Wir hatten auch schon einen Elfjährigen. 16 ist das Alter, wo die Eltern sagen, du kannst es schaffen, wir lassen dich ziehen, bau dir eine Zukunft auf.
In welchem Zustand kommen diese Jugendlichen hier an?
Früher haben die Schleuserbanden die meisten wirklich vor der Tür abgesetzt, und sie waren in einem, im Vergleich zur aktuellen Lage, gefassten Zustand. Jetzt sind sie erschöpft und meistens traumatisiert. Deshalb brauchen sie schnell Hilfe, und wir auch, denn wir werden immer schneller als Vormund von den Gerichten bestellt.
Was heißt das genau?
Alle, die jetzt ambulant reinkommen, landen im Prinzip direkt in unserer Vormundschaft, dementsprechend sind die Zahlen gestiegen, und die Mitarbeiter kommen nicht hinterher.
Wie sind die Zahlen?
Wir hatten im August Steigerungen von 75 Vormundschaften, das sind allein eineinhalb Stellen Vormund, die wir zusätzlich brauchen – in einem Monat! Wir haben Stellen im Juni aufgrund der steigenden Zahlen beantragt, die waren bereits Ende Juli nicht mehr ausreichend. Erst brauchten wir drei, jetzt schon fünf zusätzliche Stellen, so wird es weitergehen.
Wie viele Mündel betreut einer?
Eigentlich darf ein Vormund nur 50 Mündel betreuen, doch diese gesetzliche Regelung ist durch die Realität längst außer Kraft gesetzt. Die Gerichte bestellen uns trotzdem, weil sie nicht wissen, wen sie sonst bestellen sollen.
Was fehlt alles?
Es fehlt uns an Vormündern und an sozialpädagogischer Betreuung, die fehlen im Übrigen auch allen anderen elf Bezirken, auf die die Jugendlichen verteilt werden. Und es fehlen Unterbringungsmöglichkeiten. Die Situation verschärft sich ständig. Das ist ein Grund, warum wir an die Bürger appelliert haben.
Gibt es andere Gründe?
Bisher haben Organisationen wie Xenion mit dem Projekt Akinda auch ehrenamtliche Vormünder mit EU-Fördergeldern beraten und ausgebildet. Jetzt ist die Förderung ausgelaufen, da stehen aber noch 384 Interessierte auf deren Anmeldelisten, die wir dringend gebrauchen könnten. Das liegt jetzt auf Eis, weil die Finanzierung nicht klar ist. Die Senatsverwaltung hat versprochen, sich zu kümmern. Und wir haben versucht, einen Plan B aufzustellen, mit eigenen Mitteln aus dem Bezirk.
Wer zahlt für die amtlichen Vormünder?
Die amtlichen Vormünder werden vom Bezirksamt bezahlt, alles, was wir zusätzlich brauchen, beantragen wir bei der Senatsverwaltung. Allerdings gibt es maximal Zeitverträge, nichts ist wirklich ausfinanziert, es reicht hinten und vorne nicht. Und der Bezirk selbst hat keine Möglichkeiten mehr, umzustrukturieren oder aufzustocken. Es ist nichts da.
Die Jugendämter waren schon vor der aktuellen Flüchtlingslage am Rande ihrer Kapazitäten. Jetzt kommt diese Aufgabe hinzu.
Es ist eine Katastrophe. Und ich weiß keine Lösung. Es gab – jenseits der Flüchtlingsproblematik – schon so viele Sitzungen mit der Senatsverwaltung, dort haben wir haben das Thema angesprochen, aber wir landen damit nicht. Denn immer wenn es ums Geld geht, heißt es: umverteilen! Aber da nirgendwo mehr etwas ist, kann man auch nicht mehr umverteilen. Der Finanzsenator winkt aber immer ab, wenn es um Budgeterhöhung geht.
Werden andere Aufgaben nicht mehr wahrgenommen, um jetzt Prioritäten zu setzen?
Es brennt an allen Stellen. Es ist einfach überhaupt nicht mehr erfreulich, Jugendstadträtin zu sein. Egal, was sie tun, es ist nicht zu schaffen. Und ja, genau deshalb werden immer mehr Aufgaben, die wichtig sind, gar nicht mehr wahrgenommen. Wir nehmen in der Not immer mehr Pflichtaufgaben raus. Und das wird sich irgendwann bitter rächen.
Ein Beispiel für die Situation?
Die Bezirke mussten im Auftrag des Senats alle Bereiche durchrechnen und analysieren. Das haben wir gemacht, und wir haben die drei Bereiche herausgestellt, in denen es wirklich schwierig ist: der Kinderschutz, das Bundeselterngeld und Kita-Gutscheine. In diesen Bereichen ist berlinweit in allen Bezirken zu wenig Geld da. Wir haben der Senatsverwaltung das genau vorgerechnet, dabei ist herausgekommen, dass wir für ganz Berlin 160 Stellen brauchen für diese Bereiche. 80 bekommen wir! So läuft das immer.
Sie sind wütend.
Ja, ich bin wütend, wir werden mit unseren Problemen nicht ernstgenommen. Wir rechnen mit spitzem Stift. Und sind in Not. Die Situation mit den Flüchtlingen trifft nun auf eine Lage, die ohnehin schon sehr schwierig war. Eigentlich betreiben wir hier alle Insolvenzverschleppung. Und das auf Kosten der Kinder. Generell wertet man die Fachkompetenz der Bezirksämter einfach zu gering.
Nochmal zurück zu den jugendlichen Flüchtlingen: Was genau sollte man beachten, wenn man als Familie, als Privatperson, eine Pflegeelternschaft eingehen will?
Ganz wichtig ist, dass die Menschen, die das machen wollen, auch konfliktfähig sind. Dass sie in der Lage sind, Konflikte auszuhalten. Ein guter Mensch zu sein, ist eine tolle Eigenschaft, aber als guter Mensch allein wird man womöglich diese Aufgabe nicht bewältigen. Die Familie sollte von sich sagen können, wir sind belastbar und konfliktfähig. Wenn das nicht der Fall ist, geben sie zu schnell wieder auf. Und das wäre für alle Beteiligte nicht gut. Natürlich sollte man auch schauen: Sind wir offen für andere Kulturen, offen in unserer pädagogischen Grundhaltung, man sollte sich fragen: Wie wird sich das mit den eigenen Kindern vertragen?
Wie sieht es im Inneren der Verwaltungschefin aus angesichts der Situation?
Es ist ein ganz schlimmes ohnmächtiges Gefühl, denn ich weiß, ich habe kompetente, engagierte Leute und gute Strukturen, aber es wird nicht gesehen, dass wir jetzt dringend finanzielle und personelle Hilfe brauchen.
Was stimmt Sie dennoch zuversichtlich?
Meine Leute, die Mitarbeiter im Jugendamt, Menschen wie Doris Lehmann, unsere Jugendamtsleiterin, oder Oliver Gulitz vom Fachreferat Familienförderung. Sie und ihre Mitarbeiter machen einen tollen Job, und sie finden immer wieder Lösungen. Dafür bin ich dankbar. Außerdem engagieren sich auch in unseren Willkommensbündnissen im Bezirk so viele Menschen, dass ich denke: Alle zusammen können wir das doch schaffen!
Wer Interesse an einer ehrenamtlichen Vormundschaft oder einer Pflegeelternschaft hat, wendet sich entweder an: jugendamt-muf@ba-sz.berlin.de oder info@pflegekinderhilfe-sz.de
Der Autor des Interviews ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel. Folgen Sie Armin Lehmann auch auf Twitter.