Autokorso auf dem Ku'damm: Die Magie der Strecke
Warum nur schiebt sich der Autokorso immer über den Kurfürstendamm? Weil hier die Erwartungen zu Hause sind, die sich selbst erfüllen.
Die Nacht zum Montag war in Berlin nichts für Fußballverächter, speziell, wenn sie in der Umgebung des östlichen Kurfürstendamms wohnten. Die Nacht zum Tage machen – kein Problem für die siegestrunkenen Fans in ihren röhrenden Kisten. Die Fußballfolklore sieht für den Fall solcher Ereignisse einen gepflegten Autokorso vor, das ist nun einmal so, und selbst eine gut organisierte Großstadtpolizei wie die hiesige versucht gar nicht erst, sich durch entschlossenes Gegenhalten zum Deppen zu machen. Die Nachtruhe der anderen wiegt nichts, wenn die große Emotion rauswill aus dem schwarz-rot-goldenen Trikot.
Doch warum immer der Kurfürstendamm? Worin besteht, falls es sie geben sollte, die Magie der Strecke zwischen Gedächtniskirche und Uhlandstraße? Offenkundig ist ja, dass es sich hier nicht um ein verspätetes West-Phänomen handeln kann, denn aus dem ehemaligen Osten ist Ähnliches nie bekannt geworden. Gehupt und gelärmt wird in der Landsberger Allee aus gegebenem Anlass so laut wie am Roseneck, ein paar Minuten lang immer mal wieder, dann ist Ruhe.
Ja, es gibt Plätze, die räumlich gut geeignet wären, aber trotzdem nicht in Frage kommen. Kein Mensch käme auf die Idee, seine Emotionen ausgerechnet rund ums Bundeskanzleramt auszutoben. Die Friedrichstraße ist zwar weltbekannt, und sie wäre mit ihren akustischen Rahmenbedingungen ausgezeichnet geeignet, das Lob des deutschen Fußballs laut hallend in die Welt zu tragen – aber das wird nicht passieren, selbst wenn die Dauerbaustelle Unter den Linden mal vergangen sein sollte. Und Vorschläge, doch einfach mal auf die Avus auszuweichen, erledigen sich auf den ersten Blick: Wo kein Publikum ist, hat es noch nie einen Autokorso gegeben.
Das Epizentrum des fußballbedingten Verkehrsbebens wird also weiterhin die Kreuzung Joachimstaler Straße/Kurfürstendamm sein. Das ist zunächst einmal ein massenhaftes Bekenntnis zur fortwährenden Bedeutung des Boulevards, die seit dem Mauerfall bekanntlich immer wieder angezweifelt und mit jedem neuen Bauprojekt inbrünstig zurückersehnt wird. Je nachdem, welche statistischen Anhaltspunkte bemüht werden, der Umsatz pro Passant oder die Miete pro Quadratmeter, ergibt sich ein anderes Bild, und das Ansehen großer, bedeutender Einkaufsstraßen steht und fällt mit der Bereitschaft, Geld auszugeben. Doch unabhängig davon hat der Kurfürstendamm seinen Konkurrenten vor allem eins voraus: die Popularität. Hier begegnet – Zoo hin, Gedächtniskirche her – der Mensch sich selbst, der Berliner seinen Gästen, der Spandauer dem Pankower, der Provinzler dem Flaneur. Zu jeder Großstadt gehört eine Ecke, in der die Dinge in der Luft liegen, bevor sie in den Nachrichten auftauchen; in unserer Stadt ist das der Ku’damm. Alle Versuche, ihn zum Laufsteg der Hochmögenden zu stilisieren, sind gescheitert, er hat was attraktiv Billiges, daran können auch die Türsteher in den Juweliergeschäften und „Flagship-Stores“ nichts ändern.
Bezogen auf den Autokorso und seine Rituale heißt das also: Hier ist alles versammelt, zuallererst die Erwartungen, die sich selbst erfüllen. Wohin zieht es den Berliner, wenn Deutschland gewonnen hat? Da sucht man nicht lange rum, wo die Kuh grad fliegen könnte, sondern fährt zum Ku’damm, das war am 9. November 1989 nicht anders als am 13. Juli 2014. Solange das Spiel läuft, sitzt man gebannt zu Hause oder atmet auf der Fanmeile mit ihrem statischen Gedränge Wärme und Heimatgefühl, danach aber wollen die Emotionen bewegt werden. Wer am Korso teilnimmt, der kann Zuschauer und Akteur gleichzeitig sein, es sich und den anderen zeigen, selbst vor Stolz platzen und den anderen dabei zusehen.
Wer dort wohnt und genervt ist, der hat die Wahl: Wegziehen – oder darauf warten, dass unsere Fußball-Nationalmannschaft in der Bedeutungslosigkeit versinkt. Was in den nächsten Jahrzehnten allerdings eher unwahrscheinlich ist.
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