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Die zehn Jahre Leerstand merkt man dem Kirchensaal kaum an. Eine Lücke klafft allerdings dort, wo die Orgel einst war. Einbrecher haben sie geklaut.
© Kitty Kleist-Heinrich

Nach dem Verkauf sollen Eigentumswohnungen entstehen: Die letzten Stunden der Jesuskirche in Kreuzberg

Seit zehn Jahren steht die Jesuskirche in der Kreuzbergstraße 47 leer. Einbrecher stahlen die Orgel, Efeu rankt sich an den Fenstern hoch. Nun soll die verlassene Kirche verkauft werden, deshalb wird sie am Sonntag in einem Gottesdienst "entwidmet". Ein letzter Besuch.

Durch die bunten Kirchenfenster scheint das Licht, die Bänke sind mit weinroten Sitzkissen versehen und auf dem Altar steht ein Kreuz samt Abendmahlutensilien. In jedem Moment könnten Gemeindemitglieder sich auf den Bänken niederlassen, der Pfarrer durch die Flügeltür treten und der Gottesdienst beginnen. Doch in dieser Kirche, der Jesuskirche in der Kreuzbergstraße 47, werden nie wieder Orgeltöne erklingen und nur noch ein Gottesdienst stattfinden. Nach zehn Jahren Leerstand wird damit besiegelt: Die Kirche wird nie wieder ein Haus Gottes sein. Wenn man sich genau im Kirchenraum umsieht, fällt auf, dass bei den zwei großen Deckenleuchtern einige Birnen nicht funktionieren, dass die Pfeifen der Orgel fehlen. Letztere wurden vor einigen Monaten von Einbrechern gestohlen, ebenso wie ein Gemälde.

Vor dem Verkauf kommt die Entwidmung der Kirche

Das Kirchengebäude, 1960/61 errichtet, soll an eine Baugemeinschaft verkauft werden, die dort mehrere Eigentumswohnungen plant. Doch bevor die Kirche verkauft wird, muss sie als Gottesdienststätte außer Betrieb genommen werden. Und so wird sie an diesem Sonntag in einem feierlichen Akt „entwidmet“. Pfarrer Heiko Schulz von der evangelischen Jesus Christus-Kirchengemeinde wird dafür den dreiteiligen Entwidmungsakt mit Bertold Höcker, dem Superintendenten im Evangelischen Kirchenkreis Berlin Stadtmitte, durchführen. Im Rahmen des Gottesdienstes werden die Abendmahlsgeräte der Jesuskirche in einer Art Prozession in die Christuskirche in der Hornstraße 7-8 getragen. Dort findet der Gottesdienst auch seinen Abschluss samt Abendmahl. Für viele Gemeindemitglieder, sagt Pfarrer Heiko Schulz, sei dieser Gottesdienst noch mal ein schmerzhafter Prozess, ein endgültiger Abschied.

Die Entwidmung einer Kirche ist in Berlin mit ihren rund 300 evangelischen Kirchen „eine absolute Ausnahme“, wie Volker Jastrzembski, Pressesprecher der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, sagt. Nur zehn Kirchen wurden seit der Wende abgegeben. Grundsätzlich sei man an dem Erhalt der Kirchen interessiert und suche gegebenenfalls nach anderen Nutzungsmöglichkeiten. So werden Kirchen oft als Ort für kulturelle Veranstaltungen genutzt (ein Beispiel ist die Eliaskirche in Prenzlauer Berg, wo heute das Kindermuseum ist) oder sie werden an freikirchliche Gemeinden vermietet, wie etwa die freie Nazarethkirche in Wedding.

Efeu rankt an den Fenster, ein paar Balkonmöbel stehen noch in der Pfarrerswohnung

Ein leicht muffiger Geruch liegt in der Luft. Im Treppenhaus ist er besonders stark. In der ehemaligen Pfarrerswohnung stehen noch Gläser in der Küche und ein paar Balkonmöbel im Wohnzimmer. Die Fenster vom Gemeinderaum im Erdgeschoss sind von Efeu zugewachsen. Schon lange fand hier kein Gemeindeleben mehr statt. Ein Umstand, der sich aus der Zusammenlegung der Jesuskirchengemeinde mit der Christuskirchengemeinde ergab. Nach der Fusion 1998 gab es schlichtweg ein Gotteshaus zu viel. „Es fiel damals die Entscheidung, die Christuskirche als Predigtstätte zu erhalten“, erklärt Schulz. Zunächst fanden sich noch andere christliche Gemeinden, darunter eine koreanische, die das Haus anmieteten.

Doch für die kleine Gemeinde mit 3.000 Mitgliedern stellte sich die Verwaltung des Gebäudes als zu schwierig heraus. Sind doch mit der Instandhaltung auch erhebliche Kosten verbunden. Ein Verkauf schien die sinnvollste Lösung. Nun ist die Gemeinde mitten in den Verhandlungen mit einem Interessenten. Über eine Verkaufssumme möchte der Pfarrer deshalb nichts sagen. Aber die Lage, in der Nähe des Viktoriaparks, und die Grundstückgröße, gut 1.000 Quadratmeter, lassen einen stattlichen Preis erahnen. Doch die Gemeinde legt Wert darauf, dass der Kindergarten, der sich auf dem Gelände befindet, erreichbar bleibt, da er im Hinterhof des Gebäudes ist. Er wird nicht verkauft. „Außerdem ist es uns wichtig einen Käufer zu finden, der das Gebäude nicht abreißt“, sagt Schulz. Und so könnte es kommen, dass in der ehemaligen Kirche mit Glockenturm, in dem ein Fahrstuhl eingebaut ist, bald die ersten Bewohner einziehen. Wohnen in einer ehemaligen Kirche, irgendwie passt das zu Kreuzbergs kreativer Mischung.

Erinnerungen an eine glückliche Kindheit in der Kirche

Eine, die selbst schon einmal in der Jesuskirche gewohnt hat, ist Christa Sander. Ihr Vater, Paul Lohan, war der erste Küster der neugebauten Kirche und wohnte mit seiner 13-köpfigen Familie von 1961 bis 1972 in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung über dem Kirchensaal. Er sorgte unter anderem dafür, dass die Glocken zur richtigen Zeit läuteten, bereitete auch die Gottesdienste vor.

Abenteuerlich sei das Leben dort als Kind gewesen, erinnert sich die 56-Jährige heute. Der Hof und die kleine Werkstatt im Keller waren immer ihre Lieblingsorte, konnte man dort doch Fahrradfahren oder „sich an der Werkbank selbst Kasperlefiguren bauen“. Alle Familienmitglieder sind noch heute eng mit der Gemeinde verbunden, die Schwester spielte einst auf der Orgel, Hochzeiten und Taufen fanden hier statt. Deshalb ist auch viel Wehmut dabei, wenn Sander an den Verkauf denkt. Bevor das Gotteshaus schließt, konnte sie noch einmal einen Blick in ihr altes Zuhause werfen. So viel habe sich gar nicht verändert, meint sie. Die Fliesen im Bad seien noch dieselben und im Keller fand sie noch die alten Zoo-Bilder, die ihr Bruder damals an die Wand hing. Doch die kleinen Zeitzeugen von damals werden nicht mehr lange hängen. Auch die Glocken und das Kreuz am Kirchturm werden bald verschwinden. Dann wird nichts mehr daran erinnern, dass das Haus in der Kreuzbergstraße 47 einmal ein Gotteshaus war.

Der Gottesdienst mit Entwidmung findet am Sonntag, den 4. Mai, um 10 Uhr statt.

Dieser Artikel erscheint im Kreuzberg Blog, dem hyperlokalen Online-Magazin des Tagesspiegels.

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