„Grüne Radler“ in Berlin-Zehlendorf: Die etwas andere Fahrradwerkstatt
Die Werkstatt der „Grünen Radler“ auf dem Gelände des Zehlendorfer Mittelhofs ist ein Selbsthilfeprojekt und sozialer Treffpunkt. Die Idee geht über die kostenlosen Reparaturen hinaus.
„Das ist für Euch, ein kleines Dankeschön!“ Die Dame, die das sagt, hat einen großen Suppentopf mit Chili con Carne und zwei Baguettes in der Hand. Damit bedankt sie sich bei den Helfern der Selbsthilfefahrradwerkstatt „Grüne Radler“ in Zehlendorf. Denn einen Tag zuvor hatten diese das Fahrrad ihres Sohnes wieder flott gemacht. „Er ist überglücklich“, schwärmt die dreifache Mutter. „Und ich hätte es mir nicht leisten können, ihm ein neues Fahrrad zu kaufen.“ Mission erfüllt. Nun freuen sich die ehrenamtlichen Mechaniker auf ein deftiges Abendbrot.
Jeweils freitags, von 16 bis 19 Uhr, hat die Werkstatt an der Königstraße auf dem Gelände des Nachbarschaftshauses Villa Mittelhof geöffnet.
Hilfe zur Selbsthilfe
Doch es ist keine gewöhnliche Fahrradwerkstatt. Kaputtes Rad bringen, abliefern, zwei Stunden später wieder holen – das funktioniert hier nicht. Die Philosophie dahinter ist: Hilfe zur Selbsthilfe. „Die, die mit ihrem kaputten Fahrrad zu uns kommen, müssen sich selbst einbringen“, erklärt Harald Lünser. Der studierte Maschinenbauer engagiert sich seit 15 Jahren im Projekt. „Wir helfen nur beim Reparieren.“ So entwickle der Kunde ein gewisses Bewusstsein für sein Rad, lerne es kennen und bekomme einen Blick für die Sicherheit des fahrbaren Untersatzes. „Viele wissen gar nicht, dass sie die meisten Dinge selber reparieren können“, sagt Lünser.
Für alle Pannen gibt es eine Lösung
Und die Idee scheint aufzugehen. Auch an diesem schwülen Freitagnachmittag im Juli nutzen zahlreiche Zehlendorfer das kostenlose Angebot. Auf dem kleinen Vorplatz türmen sich die Fahrräder. Jeder Quadratmeter wird genutzt. In der Mitte auf einem Tisch steht ein großer Werkzeugkasten. Sieben freiwillige Helfer sind gerade im Einsatz. Lockere Pedale, einen platten Reifen, blockierte Gangschaltung oder Bremsen, herunter gesprungene Ketten und verbogene Speichen – alles ist dabei und für alles gibt es eine Lösung.
Jürgen Reichelt, jeder hier nennt ihn nur Jojo, ist bereits 80 Jahre alt und hilft, so oft es geht. Zwar kann er durch eine Krankheit seine rechte Hand nicht mehr richtig bewegen, doch für seine Lieblingsbeschäftigung, das Einspeichen, reicht es nach wie vor. Dazu braucht man viel Geduld und Fingerspitzengefühl. Jede einzelne Speiche muss eingefädelt und nachher mit einer winzigen Mutter festgeschraubt werden.
Im Moment speicht Jojo Räder ein, die für Flüchtlinge instand gesetzt werden, die bald in die Containerunterkunft am Hohentwielsteig einziehen. Eine engagierte Bürgerin, die ihren Namen nicht nennen möchte, hatte diese Idee. Sie entdeckte in einem Mietshaus in der Sundgauer Straße zehn herrenlose Fahrräder und brachte sie als Spende hierher. Und wenn es für einen guten Zweck ist, sind die „Grünen Radler“ gern dabei.
Seit 36 Jahren ein sozialer Treffpunkt
Die Selbsthilfefahrradwerkstatt in Zehlendorf gibt es seit 36 Jahren. Sie ist vor allem auch ein sozialer Treffpunkt. Manche kommen jeden Freitag vorbei, bei Wind und Wetter, egal: hinsetzen, reden, miteinander lachen. Eine gesellige Dame zum Beispiel hat regelmäßig einen platten Reifen. „Ich denke manchmal, dass sie sich den Schlauch selbst kaputt sticht“, sagt Jürgen Abeler und kann sich ein Schmunzeln kaum verkneifen. Er ist der letzte Mitbegründer der Werkstatt, der sich bis heute aktiv einbringt. Nach getaner Arbeit wird gemeinsam gegessen. Das hat Tradition. „Manchmal sitzen wir bis nachts um zwei Uhr zusammen.“
Jürgen Abeler ist 73 Jahre alt, passionierter Radfahrer und Umweltaktivist. Er gehörte einst zur Bürgerinitiative „Grüne Radler“, die sich Ende der 1970er Jahre im damaligen West-Berlin organisierte. Ihr Ziel war es, den Fahrradverkehr zu verbessern; niederschwellig, ohne Hierarchien und Vereinsdruck.
„Wir wussten, dass viele Fahrräder ungenutzt und zum Teil kaputt in den Kellern standen“, erinnert er sich. Deshalb sei die Idee mit der Selbsthilfefahrradwerkstatt entstanden. Und weil Abeler in Zehlendorf wohnte, wurde das Projekt hier auf die Beine gestellt. Zunächst sei man skeptisch gewesen, ob so etwas in einem bürgerlichen Kiez funktioniere. Letztlich aber habe sich die Nachhaltigkeit durchgesetzt, die hinter dem Konzept stehe.
Seiner umweltbewussten Grundeinstellung ist Abeler treu geblieben. Eine alternative Fortbewegung zum Fahrrad gibt es für ihn nicht. Er sieht es als das bequemste und schnellste Verkehrsmittel in Berlin. Zwar nutzt er inzwischen ein Elektrorad, aber nur aus gesundheitlichen Gründen. Sogar Reisen unternimmt der aktive Senior mit dem Fahrrad, unter anderem war er schon in Frankreich, Spanien und Kroatien. Seine größte Tour: 5500 Kilometer durch China in einem halben Jahr. „Radfahren ist gesund, zukunftsverträglich und macht Spaß“, sagt er. Im September will er von Berlin nach Istanbul fahren.
Die Autorin Anett Kirchner ist freie Journalistin, wohnt in Steglitz-Zehlendorf, und schreibt als lokale Reporterin regelmäßig für den Tagesspiegel Zehlendorf. Folgen Sie Anett Kirchner auch auf Twitter.
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