Vom schleichenden Zerfall einer Berliner Schule: Der Baustellenrektor
Zwei Milliarden Euro kostet Berlins Sanierungsstau an den Schulen. Das Fichtenberg-Gymnasium in Steglitz-Zehlendorf ist mit seiner unglaublichen Geschichte ein Symbol dafür, was dem Staat die Bedingungen, unter denen Kinder lernen, wirklich wert sind.
Nachts geht er auf die Barrikaden. Gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen, mit Eltern und Lehrern besetzt er die eigene Schule und harrt aus – bis sie gerettet ist. In seinem immer wiederkehrenden Traum.
In der Realität schaut der Mann an einem düsternassen Januartag aus seinem Rektorenzimmer direkt auf Gitter. Sie umzingeln die gesamte Schule, damit herabstürzender Putz niemanden verletzen kann. Traurigkeit ist in den sonst sehr wachen Augen des Schulleiters sichtbar. Um den Putz allein geht es hier längst nicht mehr – die ganze Existenz seiner Schule könnte auf dem Spiel stehen. Weil immer neue Gefahren entdeckt werden. Rainer Leppin, 65 Jahre alt, 37 Jahre Lehrer und seit acht Jahren Direktor des Fichtenberg-Gymnasiums in Steglitz-Zehlendorf, sagt leise: „Ich werde eine Bruchbude übergeben. Das schmerzt sehr.“
Fenster fallen heraus, Decken brechen ein, alles schon geschehen
Nur noch ein paar Monate, dann geht er in den Ruhestand. Aber das Fichtenberg-Gymnasium wird ein Mahnmal bleiben, ein Symbol dafür, was dem Staat die Bedingungen wert sind, unter denen Kinder in Berlin unterrichtet werden. Dieses Gebäude ist keine Ausnahme in Berlin, mittlerweile ist es so weit gekommen, dass Schule in dieser Stadt ein Ort der Gefahr für Leib und Leben darstellen kann. Fenster fallen heraus, Decken brechen ein. Alles schon geschehen.
Das ist der Abgrund dieser Geschichte. Der Zustand der „Fichte“, wie die Schule genannt wird, erzählt etwas über Ohnmacht und Hilflosigkeit der Verantwortlichen im Bezirk und im Senat. Insgesamt hat Berlin einen Schulsanierungsstau von zwei Milliarden Euro, an erster Stelle im Bezirksranking rangiert das bürgerliche Steglitz-Zehlendorf mit 400 Millionen Euro. Hier, heißt es aus dem Bezirksamt, sei der Altbaubestand besonders hoch, das Bauamt besonders überlastet und das Geld noch knapper als anderswo. Viele Gebäude, auch die „Fichte“, stehen unter Denkmalschutz.
Doch hier soll es nicht um die Bürokratie gehen. Denn diese vermeintlichen Fakten und Zahlen können nicht ausdrücken, was die bauliche Situation, und die Gefahren, die sich daraus ergeben, mit den Betroffenen macht. Sie sagen nichts darüber, wie die wachsenden Probleme – von undichten Fenstern, kaputten Dächer, Legionellen, überschrittenem Eisengehalt im Trinkwasser, leckenden Rohren und Regenrinnen, stinkenden Klos bis zum abfallenden Putz – sich in den Schulalltag fressen.
Das belastet Körper und Geist. Das Recht auf Bildung, ist es angesichts solcher Umstände nicht schon eingeschränkt?
In Steglitz-Zehlendorf sind diese Probleme offenbar derart existenziell geworden, dass sich die Direktoren der Gymnasien nicht anders zu helfen wussten, als einen verzweifelten Brief an Bezirk und Senat zu schreiben. Darin warnen sie vor „akuten Gefahren für Schüler und Personal“ und listen akribisch alle Mängel auf.
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Rainer Leppin ist ein kleiner, mutiger Mann mit großem Herzen für seine Schule. Und für Kinder. Weißes Haar und blaue Augen sind das Markanteste an seiner Erscheinung. Er sei, sagen die, die ihn kennen, eine Persönlichkeit, die unaufgeregt versucht, die Dinge zum Guten zu wenden. Aber je häufiger man ihn spricht, desto mühsamer fällt es ihm, Contenance zu wahren.
Denn der Sanierungsbedarf erreicht beinahe das Gesamtbudget für die bauliche Unterhaltung aller Bezirksschulen. Und die letzten Untersuchungen, um die es in dieser Geschichte noch gehen wird, könnten die Gesamtsanierungssumme noch erheblich steigern.
Auf den ersten Blick wirkt alles ganz normal an der Fichtenberg-Oberschule und so angenehm wuselig, wie man sich das von einer Institution vorstellt, in der ein engagierter Geist wohnt. Von außen sieht man zunächst ein erhabenes, stolzes Gemäuer, mit Spitzdächern, Türmen und vielen Winkeln. Eigentlich ein Traum von einem Gebäude, 1912 für die höhere Mädchenschule im Bezirk gebaut. Drinnen läuft man vorbei an zahlreichen Plakaten, an Bildern von Schülern mit Flüchtlingen, an Materialien einer Arbeitsgruppe, die sich mit Krieg und Terror beschäftigte und sich fragt: „Gibt es überhaupt Gut und Böse?“ Die Schule hat den Ruf, politisch zu sein, ein bisschen links, vor allem aber sozial engagiert.
Nur in einem Raum ist die Welt in Ordnung
Rektor Leppin und sein Fachbereichsleiter Physik führen die breiten Treppen hinauf in den zweiten Stock, vorbei an selbst gestrichenen dunkelgrünen Heizkörpern und orangefarbenen Leisten hinein in das Musterzimmer der Schule. Ein Physikraum, in dem die Welt in Ordnung ist, weil es warm ist und nicht zieht. Es gibt neue Möbel, bunte Stühle, gesicherte elektrische Anschlüsse und einen Linoleumboden mit Korkdämmung.
Dieser Raum ist einzigartig, es wird ihn nämlich nicht noch einmal geben. In dieses Klassenzimmer hat die Schule ihr ganzes Preisgeld hineingesteckt, 17 000 Euro, das sie für ein Klimaprojekt gewonnen hatte. Es war die Idee des Fachbereichsleiters, er wollte zeigen, was normal wäre und sagt: „Wir haben ein Recht auf einen ordentlichen Arbeitsplatz, aber den haben wir nicht.“ Beinahe wäre das Projekt gescheitert und das Preisgeld verfallen, weil das zuständige Amt im Bezirk den ausgearbeiteten Plan der Schule zu lange ignorierte. Es ist diese Art der Ignoranz, eine Art Entmündigungsritual, das Rainer Leppin zornig macht. Vielleicht hätte er es ahnen müssen, als vor acht Jahren alles begann. Er führt seine Frau in sein Büro, sie sieht ihn entsetzt an, und Leppin verschämt zu Boden. Dort entdeckt er einen völlig verschlissenen, teils zerrissenen Teppich. Die Möbel waren unbrauchbar. Einen neuen Teppich bekam er, den Rest hat er sich selbst besorgt und bezahlt. 1000 Euro privates Startkapital.
Damals wollte Leppin das nicht als ein schlechtes Omen deuten. Er wollte Inhalte weiterentwickeln, die Gemeinschaft und das soziale Miteinander stärken, dem Ruf der Schule Ehre machen. Er wusste nicht, dass er ein Baustellenleiter war. In seinem ersten Winter fällt die Temperatur in manchen Räumen wegen der undichten Fenster auf 12 Grad ab, sie können nicht benutzt werden. Bis heute gibt es einen Flur, den keine warme Luft erreicht. Eines Tages, erzählt Leppin, der jetzt wieder in seinem Büro sitzt, sei begonnen worden, die Elektrik in den Schulfluren zu erneuern. Doch habe man vergessen, die Kabel auch in die Klassenzimmer zu verlegen.
Vor einigen Jahren fallen ihm Teile der Decke auf den Schreibtisch, Wasser strömt von oben auf seine Akten. Über ihm, in den Chemieräumen, ist das Wasser aus den kaputten Rohren geflossen. In den Räumen für Physik und Chemie fallen 15 Platten von der Decke, dabei ist der Chemieraum ein Jahr zuvor saniert worden. Erst als er sich entschließt, über die Medien in die Öffentlichkeit zu gehen, geschieht etwas. Er sagt: „Ich habe nie direkt eine Reaktion von den Verantwortlichen bekommen. Nie. Es ging immer nur auf Druck der Öffentlichkeit.“
Ein Kümmerer, empathisch, ohne Aufdringlichkeit
Leppin wird nicht nur Bauleiter, sondern PR-Mann in eigener Sache. Der Schuldirektor, man spürt das, liebt seinen Beruf. Er ist ein Kümmerer, empathisch, ohne aufdringlich zu sein. Fragt man die Schülervertreter, sagen sie: „Wir vertrauen ihm, er hört uns zu.“ Selbst hat er ganz andere Erfahrungen als Schüler gemacht. 1950 in Berlin geboren, ist er noch von seinen Lehrern geschlagen worden. In den Sechzigern darf Leppin als Austauschschüler in die USA, das Jahr seiner Selbstfindung und Politisierung.„Schuldirektor war damals etwas Unmögliches, das war ja Establishment!“ Als er wiederkommt und 1969 Abitur macht, weiß er eines, er will sich nicht verbiegen lassen. Er hat ein Talent zum Organisieren und ein Händchen für Menschen. Wer sich umhört, wird das bestätigt bekommen. Sie mögen ihren Direktor schon sehr. Die Schule an sich, die Software sozusagen, funktioniert. Die Schulgemeinschaft lebt, die Leistungen stimmen. Sagen die Eltern. Das sei Leppins Verdienst.
Wird die Aula am Ende halten oder steht die Existenz auf dem Spiel?
Seit einiger Zeit wacht er nachts auf, spürt diesen Schmerz in sich. Er träumt er nicht mehr nur vom Widerstand, sondern im Schlaf verfolgen ihn die „Lügen derer“, wie er sagt, „die im Bezirksamt sitzen“, und von denen er sich hintergangen fühlt. „Wir machen hier unseren Job, aber das wird nicht gewürdigt.“ Von Anfang an beobachtet er, dass der Putz bröckelt, dass das Dach und Regenrinnen undicht sind und die Fenster nicht isoliert. Aber es passiert nichts. Er setzt sich dafür ein, dass ein völlig schimmliger, feuchter Großraum über das Konjunkturpaket zwei zu einer Mensa umgebaut wird. Aber das Amt dimensioniert das Bauvorhaben zunächst falsch, Rohre passen nicht, es gibt lange Zeit kein Wasser. Nur mit großer Verzögerung kann die Mensa genutzt werden.
Das Amt schickt Farbe. Mehr nicht.
Trotzdem ist das Engagement in der Schule und bei den Eltern groß, die Lehrer sind motiviert. Bei der Schulinspektion 2010 geben alle Lehrer der Schule an, dass sie „gern“ zur Arbeit kommen. Das imponiert den Inspektoren. Leppin fühlt sich stark. Damals sieht er „Licht am Ende des Tunnels“. Als die Rothenburggrundschule aus dem gemeinsamen Gebäude in das ehemalige Lastenausgleichsamt nebenan zieht, werden 22 Räume frei. Zuvor musste das Gymnasium aus Platzmangel Räume der nahen Blindenschule nutzen. Dann schickt das Amt Farbe. Mehr nicht. Jetzt lacht Leppin bitter. Mit der Farbe streichen Eltern und Lehrer die Räume, aber sie sind leer. Für Ausstattung und Möbel muss die Schulgemeinschaft samt Förderverein aufkommen. Der Schulleiter schüttelt den Kopf: „Es ist wirklich ein Irrsinn. Die haben uns absolut allein gelassen!“ Aber die Schule lebt, hat Leppin gedacht. Was, fragt er sich, sollen sie noch tun? Im November haben Schüler die Schulstadträtin gefragt, ob sie angesichts der neuen Lage bald in Container ziehen müssen. Sie soll geantwortet haben, soweit werde es nicht kommen. Das war vor zwei Monaten, nun ist die Lage anders. Schlimmer. Cerstin Richter-Kotowski, die zuständige Stadträtin von der CDU, möchte sich die Arbeit ihres Amtes nicht schlecht reden lassen. Sie verweist auf die Erfolge, die es schließlich auch gebe. „Wir leisten in diesem Bezirk sehr viel, und wir haben auch viel auf den Weg gebracht, zum Beispiel die Rothenburg-Grundschule, die Max-von-Laue-Schule oder das Gymnasium Steglitz. Bei allem Verständnis für Kritik, auch Erfolge müssen anerkannt werden." Auf die „Fichte“ angesprochen, sagt sie, dass sie gar nichts mehr ausschließen könne. Auch keine Container. „Wir wissen noch nicht, wie groß der Gesamtsanierungsbedarf ist. Aber wir werden tun, was wir können. Ich versichere allen, dass wir die Fichte nicht alleine lassen.“
Leppin glaubt ihr nicht mehr. Er hat mit allen geredet, mit dem Bürgermeister, mit den Stadträten, selten gab es eine einheitliche Linie, kaum Verbindlichkeit. Manchmal wollte der eine das Gegenteil vom anderen. Nach jahrelanger Bettelei seitens der Schule schickt das Bauamt im Herbst 2014 eine Firma, die sich den Putz anschauen soll. Sie stellt fest, dass 90 Prozent des Putzes sich von der Fassade gelöst hat. Er wird nur noch von der Farbe gehalten. Seitdem ist die Schule ein Käfig, vergittert rundherum, der Zaun mit Warnungen versehen. Nur barrierefrei sind die Gitter noch nicht, obwohl die Schule eine Integrationsschule für blinde und sehbehinderte Schüler ist. Der Lack ist ab. Seitdem kann die Feuchtigkeit ungehindert in das Mauerwerk eindringen.
Rainer Leppin hat noch einen anderen Traum, er will „eine anerkannte, geordnete Schule“ mit „einem tadellosen Ruf“ übergeben. Das hat er inhaltlich geschafft, doch er nutzt womöglich nichts. In einer Mail an die Schule schreibt eine Mutter: „Wir hatten das Fichtenberg ja in die engere Wahl genommen, aber das Gebäude scheint leider in einem derartig maroden Zustand zu sein, dass wir von einer Anmeldung absehen werden…“ Hier liegt der Kern seiner Verzweiflung: „Es wäre doch absurd, wenn wir dafür bestraft werden, weil wir die Missstände anprangern und Abhilfe fordern.“
Doch nun bedroht der nächste Sanierungsfall womöglich die Schulexistenz. Viele Jahre wurde auch gemahnt, dass das Dach saniert werden muss. Es regnet durch. Es gibt zwar auch Räume, in denen die Fenster gar nicht mehr zu schließen sind und in die es dann nachts reinregnet, aber das Dach ist wichtiger. Für einen Teilbereich des Daches wurden im Herbst vorbereitende Arbeiten durchgeführt. Dabei werden Zweifel an der Tragfähigkeit einer anderen Konstruktion geäußert: am Aula-Dach, das im ersten Stock darunter liegt.
Der gute Ruf steht auf dem Spiel
Seit jener fatalen Vermutung im Herbst ist die Aula gesperrt. Sind Rundbalken, die das Dach halten, morsch? Das wäre ein unerhörtes Sicherheitsrisiko. Darüber, bis zum äußeren Spitzdach der gesamten Schule, soll der Hohlraum mit Schutt und Feuchtigkeit gefüllt sein. Die Aula ist oft das Herz jeder Schule. Und diese Aula ist das Prunkstück des Fichtenberg-Gymnasiums, eigentlich. Man tritt in den Raum wie in ein Kirchenschiff, ein weiß verziertes Runddach, an den Wänden Bleiglasfenster, die aussehen wie verzierte Kirchenfenster. Auch sie sind völlig heruntergekommen. An der Decke vier große Kronleuchter. Normalerweise singt hier der Chor, die Theatergruppe probt, Aufführungen finden statt, und am Tag der offenen Tür, der in wenigen Tagen stattfinden soll, werden die Gäste hierher geführt. Dieses Mal nicht. Dieses Mal werden die Besucher in der staubigen kleinen Sporthalle auf dem Hof informiert. „Unser guter Name wird durch Äußerlichkeiten zerstört", sagt der Schulsprecher. Leppin sagt: „Die anderen Gymnasien, die auch bauliche Mängel verzeichnen, halten sich zurück, weil sie einen Schülerrückgang befürchten.“
Schülerrückgang bedeutet weniger Lehrer, weniger Geld und somit weniger Unterricht und damit in der Konsequenz weniger Bildung. „Die blanke Katastrophe“ nennt der Direktor die Lage. Und er macht das Bezirksamt wegen ihres „abwartenden Verhaltens“ dafür verantwortlich. In der vergangenen Woche haben sich Fachleute, Statiker und Architekten, die Aula angesehen. Ergebnis: Es gibt noch keines. Die Aula bleibt mindestens bis nach den Osterferien gesperrt, dann wäre Mitte April. Bis dahin wollen die Statiker die Tragfähigkeit und die Qualität des Holzes prüfen. Die Zukunft der Schule bleibt eine Zitterpartie. Seit Jahren verlangt Rainer Leppin nicht mehr und nicht weniger als eine verlässliche Planung, eine professionelle Bestandsaufnahme, eine Prioritätensetzung. Stattdessen bekommt er Baustellen, die nur zur Sicherung dienen, aber nicht zur Sanierung. Letztens hat das Amt 50 Megaphone an mehrere Schulen im Bezirk verschickt. Man hat festgestellt, dass die alten Brandmelder zu leise sind. Die „Fichte“ bekam fünf davon.
Und was sagt die Bildungsstadträtin von Steglitz-Zehlendorf noch? Sie beklagt zu wenig Geld und fordert ein Konjunkturprogramm. Lesen Sie hier, was die CDU-Politikerin will.
Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel und hat für die Zeitung die lokalen Blogs konzipert, darunter den Zehlendorf Blog, ein Online-Magazin aus dem Südwesten der Stadt. Folgen Sie Armin Lehmann auch auf Twitter oder Facebook.