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Werner Krätschell berichtet über seine Erlebnisse in der Wendezeit.
© Ulrike Scheffer

Kolumne: Demokratie muss man üben

Werner Krätschell erlebte die Wende hautnah mit. Sein Pankower Pfarrhaus war Anlaufstelle für Oppositionelle und Friedensaktivisten. In seiner Kolumne für Tagesspiegel online öffnet er diesmal sein Tagebuch von damals. Darin notierte auch, wie er den Pankower Runden Tisch moderierte.

Nach dem Wunder des Mauerfalls am 9. November 1989 drehte sich das Karussell der deutschen Geschichte bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Für uns Ostdeutsche rasten die Bilder und Ereignisse so schnell an uns vorbei, als sollten wir für das 28-jährige Eingemauertsein mit einem Feuerwerk entschädigt werden.

Die folgenden Auszüge aus meinem Tagebuch aus jener Zeit vor 25 Jahren veranschaulichen dies.

6. Dezember 1989

Nikolaustag - unsere Kinder freuen sich am Morgen über ihre am Vortag blank geputzten Stiefel, weil wir sie nachts mit Süßigkeiten gefüllt haben. Tag der (Kinder-)Überraschungen: Egon Krenz tritt zurück, der Nachfolger von Honecker! An einem Zaun in Pankow ist ein Plakat von einer Demonstration gegen den Staatssicherheitsdienst (Stasi) hängen geblieben: „Die Wahrheit ist schlimmer als die Gerüchte“. Es ist nicht entfernt worden – wie sonst, verbunden mit drakonischen Strafen.

Der Dalai Lama ist in Berlin. Viele wollen jetzt hier gewesen sein. Er befindet sich auf dem Weg nach Oslo, wo er den Friedens-Nobel-Preis entgegennehmen wird. Er soll ein Friedensgebet halten in der Großen Hamburger Straße an der Gedenkstätte, die an die Verbrechen der Deutschen an den Juden erinnert. Bischof Forck hat mich gebeten, dabei die Evangelische Kirche zu vertreten. Anschließend Pressegespräch im Dietrich-Bonhoeffer-Haus. Morgen soll an dieser Stelle zum ersten Mal der „Runde Tisch“ auf Anregung der Evangelischen Kirche zusammenkommen.

9. Dezember 1989

Dem Bürgermeister von Pankow droht Gefängnis wegen Wahlfälschung. Seit Wochen ist er nicht zu sehen. Sein Stellvertreter, ein Herr Hauser, ist von der gleichen Sorte. Er hat, sicher auf Anweisung, auch zu einem „Runden Tisch“ im Pankower Rathaus eingeladen. Ich bin als Kirchenmann dazu gebeten worden. Den Leuten des alten Systems, Blockparteien eingeschlossen, steht das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben. Ihre „Legitimation“ ist als Lüge entlarvt worden. Über den Köpfen der Opposition schwebt unsichtbar das Motto der Demonstrationen vom Oktober und November: Wir sind das Volk. Herrn Hauser wird sofort das Recht der Leitung abgesprochen. Nach großem Hin und Her werde ich zum Leiter gewählt. Die langwierigen Diskussionen haben mir die wesentliche Schwäche der Vertreter am Runden Tisch und sicher auch der meisten Menschen im Land offenbart: Wir haben nach 40 Jahren roter und nach vorhergehender brauner Diktatur Demokratie verlernt. Darum übe ich zunächst das Abstimmen – oft über ganz einfache Dinge. Auch das freie Reden ist ungeübt. Aber in allem ist das Staunen und Sich-Freuen zu spüren, dass Demokratie möglich ist und funktioniert, denn viele der Entscheidungen haben Konsequenzen. Mit jeder Abstimmung wird das alte System einige Zentimeter weiter weg geschoben.

19. Dezember 1989

Um 9 Uhr mit Paul Oestreicher aus Coventry bei Lothar de Maizière, CDU-Vorsitzender und als stellvertretender Ministerpräsident jetzt für Kirchenfragen zuständig. Bisher gab es in diesem Haus nur Kommunisten. Die Gespräche waren steif. Mancher wurde nur abgekanzelt. Es war klar, wer die Macht hatte. Und nun begrüßt mich der Chef des Hauses mit der nur innerkirchlich üblichen Anrede: „Bruder Krätschell“. Kaum zu glauben in diesen (!) Räumen. De Maizière spricht zu uns über das perfekte System, das die Menschen im Land unterdrückt hat und zu einem großen Teil auch zu Schuldigen und manchmal sogar heimlichen Mitarbeitern gemacht hat. Er sagt, dass alles Material eigentlich in Bunkern verschlossen werden müsste, sonst könnte bei Veröffentlichung die Würde der Menschen zerstört werden. Die „Stasi“ habe auch die geheimsten Regungen, Gespräche und Treffs von Zehntausenden dokumentiert und gespeichert. Ich frage mich, ob das „Einbunkern“ nicht noch gefährlicher ist und wie dann den Opfern Gerechtigkeit widerfahren soll.

Werner Krätschell

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