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Zeitreise: In den 50er Jahren gab es auf der Bergmannstraße noch einen Kuhstall.
© imago

Kreuzberg Ende der 50er Jahre: Bergmannkiez, wie haste dir verändert!

Von der Destille bis zum Kuhstall: Unser Autor Gerd Nowakowski wuchs in den 50er Jahren im Berliner Bergmannkiez auf, einer Zeit, in der die Wohnung klein war und der Spielplatz die Bergmannstraße. Für den Kreuzberg Blog zeichnet er seine Erinnerungen auf.

Die Stahltür ist zu. Ganz unscheinbar fügt sie sich ein in die Wand. Dass hier in der Kneipe „Destille“ ein Durchgang ist zum Hausflur, geht für die Gäste an der Theke nahezu unter in der Vielzahl der bunten Plakate und Blechschilder an den Wänden. Ein Durchgang in die Kindheit. Wie oft haben wir Kinder uns durch die Lärm-erfüllte Kneipe geschlichen, haben uns scheu vorbeigeschoben an den Gästen, um ins Treppenhaus zu gelangen, wenn die große Haustür verschlossen war. Nur das kleine Warnschild „Achtung Stufe“ gemahnt noch an die Seitentür. Ach ja, die Stufe. Oft gestolpert drüber, wenn wir schon müde waren; oft von Vaters Hand geschoben, der auch häufig unter jenen Gästen war. Nicht viel hat sich in der Destille geändert seit damals, seit einer Kindheit in den fünfziger Jahren zwischen Mehringdamm und Marheinekeplatz, zwischen Bergmannkiez und Chamissoplatz. Selbst die grüne Kunstlederbank entlang der Wand des schlauchförmigen Lokals, das schon seit über 100 Jahren an dieser Stelle existiert, gibt es noch.

Der Geruch von frisch gerösteten Kaffeebohnen und abgestandenem Bier

Es sind die Gerüche, mehr noch als die Bilder, die eine Erinnerung prägen. Bilder verblassen; Gerüche speichern immerdar längst Vergangenes. Ein säuerlicher Geruch durchzieht jene Jahre. Nein, zwei unterschiedliche, jeweils auf ihre Weise charakteristische Gerüche verbinden sich mit dem Haus Mehringdamm 67. Der säuerliche Geruch in der „Destille“, ein Gemisch aus abgestandenem Bier, vom Alkohol oxydierten Kupferleitungen und einem emporsteigenden Brodem aus dem Bierkeller, wenn die Fässer heruntergehievt wurden. Ein Geruch, der sich über Jahrzehnte eingeätzt hatte, dem kein Lüften beikommen konnte. Und vom Geschäft im Nachbarhaus stieg in die Nase ein leicht stechender Geruch auf aus jenen Kaffeebohnen, die in dem kleinen Laden frisch geröstet wurden; ebenso leicht säuerlich riechend. Der dünnen Schicht der ausgebreiteten Bohnen auf der geheizten Edelstahlfläche, immerfort umgewälzt durch eine mechanische Vorrichtung, entströmte ein Duft, der bis weit auf den Bürgersteig zog. Vor den zwei Röstmaschinen warteten geduldig die Frauen, deren Familien sich solche luxuriöse Spezialität leisten konnten, bis die Bohnen geröstet waren.

Das einzige Grün des Hofes: die Halde leerer Flaschen

Und vor dem Laden standen die Kinder, die dem monotonen Drehen der Röstmaschine wie hypnotisiert folgten; an den Wänden standen die großen Säcke, deren Schilder auf Länder fern unserer Vorstellungskraft verwiesen. Die Schilder mit Namen wie Mocambique waren ein nie ausgehender Stoff für wilde Vermutungen über die Lebenswirklichkeit jener fernen Länder; in einer Zeit, in der der Phantasie noch von keinem (Fernseh)-Bild Einhalt geboten wurde. Wie eingerahmt von jenen zwei säuerlichen Gerüchen lag die schwere Eingangstür, die von den Kindern aufgestemmt wurde, um in den Hof zu gelangen, vorbei am Vorderhaus, wo die bürgerlichen Mieter wohnten, hin zur eigenen Wohnung im zweiten Hinterhaus. Auf dem immer finsteren, schachtartigen Hof war das einzige Grün die große Halde leerer Flaschen, auf dem der Zapfer aus der Destille nächstens nach Betriebsschluss mit durchdringendem Klirren immer neue Flaschen schüttete.

Die Bergmannstraße: ein großer Spielplatz.

Eine kleine Welt zwischen Rösterei und Destille, und die auch in den 50er Jahren schon belebte Bergmannstraße gleich um die Ecke als Spielplatz. Wo die Wohnungen noch so klein waren, dass es oft nicht einmal zu mehr als einer Toilette reichte, von Kinderzimmern zu schweigen, blieb nur die Straße. Der Vater arbeitete in der Bergmannstraße bei einem Tischler, dessen Werkstatt im Keller lag. Aus dem drang täglich das schreiende Geräusch der elektrischen Hobelmaschine. Die Kinder hockten oft auf den Stufen und sahen den Männern zu, die – einen Bleistift, oft auch eine Zigarette hinters Ohr geklemmt – das bauten, was alle brauchten: Fenster und Türen für die oft genug nur notdürftig nach dem Krieg reparierten Häuser in Kreuzberg, denen man die Kriegsschäden noch sehr genau ansah – vom rohem Backstein nahe dem Dach, wo ein Bombenschaden das Mauerwerk weggesprengt hatte bis zu den unzähligen Löchern im Putz, geschlagen von Maschinengewehrkugeln oder Granatsplittern. Es störte niemanden, weil jeder froh war, überhaupt eine Wohnung zu haben. Mit Neid wurden jene betrachtet, die in die Neubauten am Marheinekeplatz ziehen durften, auch wenn diese noch Kohleöfen hatten und so klein waren, dass die großen Familien kaum mehr Platz hatten als zuvor. Dafür aber gab es heißes Wasser und eine Badewanne.

Die Kühe der Bergmannstraße

Die Destille hat das alles überstanden. Verschwunden sind die Kaffeeröstereien und Läden für Herrenhüte, verschwunden ist das wuselige, enge Treiben in der Marheinekehalle, wo sich in den Gängen noch ein kleiner Stand an den nächsten reihte und das Angebot noch mager war. Vergessen aber ist vor allem der Kuhstall in der Bergmannstraße. Mit der metallenen Kanne liefen die Kinder in den Hinterhof, um dort die frische Milch zu holen. Neugierig, auch ängstlich warfen sie einen Blick auf die Tiere, die dort im Stall stoisch standen und nur selten einen Laut von sich gaben. Wie ein Besuch im Zoo, so kam es den Kindern vor, bevor sie schlenkernd mit der Kanne nach Hause rannten und sich erfundene Geschichte erzählten von ausbrechenden Kühen und sich Mutproben ausdachten, die sie nie verwirklichten, weil die Kühe viel zu gefährlich aussahen, um ihnen wirklich am Schwanz zu ziehen, wie einige kecke Jungs zuvor geprahlt hatten.

Der erste Kinobesuch mit dem Vater

Und auf dem Weg nach Hause hielten sie inne an den Glaskästen gegenüber vom Kuhstall, wo das Kino „Allotria“ seine nächsten Filme präsentierte. Dort kamen die Kinder immer mit dem Vater vorbei, wenn sie ihn abends von der Tischlerei abholten. Gemeinsam sahen sie sich die Fotos an, bettelten aber vergeblich um eine Karte für das kleine Kino im Hinterhof. Den Kindern wäre nie eingefallen, zu fragen, warum dieses ärmliche Kino großspurig „Allotria“ benannt worden war, was auf lateinisch „Dummheiten oder Albernheiten“ bedeutet. Ein enger, langer Raum war es, eine ehemalige Werkstatt, die nun als Kinosaal diente; mit schlechter Tonanlage und einer Säule im Raum, so dass sich einige Besucher zur Seite recken mussten, um von ihren Plätzen die Leinwand vollständig zu sehen. Kein Vergleich zum großen Filmpalast „Rivoli“ auf der anderen Straßenseite, zwei Häuser neben dem Kuhstall. Dort hatten Mitschüler auf der großen Leinwand „Ben Hur“ gesehen und konnten nicht aufhören zu schwärmen, während die anderen Kinder neidisch zuhörten.

So viele Kinos es gab, so selten durften sie in die dunklen Säle eintauchen. Nur die Fotos ansehen konnten sie in der Bergmannstraße vor dem "Allotria" oder dem "Rivoli", und auf dem Mehringdamm beim „Belle Alliance“ oder dem „Prisma“. Wo das „Rivoli“ stand, macht sich nun ein Ärztezentrum in der Bergmannstraße breit, im „Belle Alliance“ ist ein Discounter eingezogen, und im „Prisma“ wird heute Secondhand-Kleidung verkauft. Und das „Allotria“ ist wieder nur ein Flachbau im Hinterhof, ohne jede Erinnerung an das einstige Lichtspielhaus. Mit dem Vater war der Junge zu seinem ersten Kinobesuch gegangen, vor Aufregung in fiebriger Unruhe, und hatte John Wayne in „Rio Bravo“ gesehen. Danach hatte der Vater den Neunjährigen mit in die Destille genommen; da durfte er eine Weile wie ein Erwachsener stehen unter den Männern. Bis ihn der Vater durch jene Seitentür der Destille in den Hausflur schob, damit er zur Mutter gehen sollte. Und der übermüdete Junge, geschoben von des Vaters Hand, stolperte durch die kleine Seitentür der Destille, die damals noch kein Warnschild zierte, in den Hausflur und strauchelte über diese Stufe.

Dieser Artikel erscheint im Kreuzberg Blog, dem hyperlokalen Online-Magazin des Tagesspiegels.

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