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Unsere Geschichte. US-Historikerin Atina Grossmann blickt mit gemischten Gefühlen auf das Hotel Astoria – hier wohnte einst ihre 1943 deportierte Großmutter.
© Thilo Rückeis

Neuer „Stolperstein“ in Berlin-Charlottenburg: Baustelle Wiedergutmachung

An diesem Samstag wird vor dem Hotel Astoria in der Fasanenstraße ein Stolperstein verlegt. Familie Grossmann wurde hier einst zum Verkauf gezwungen. Eine Berliner Enteignungsgeschichte.

Über der wüsten Kulisse am Eck Fasanen-/Hardenbergstraße ist, eingezwängt zwischen Neubauten, der schmale gelbe Altbau Hotel Astoria kaum zu sehen. An der Fassade hängt dreisprachig das Schild „Zimmer frei“. Hinterm Zaun stehen Container und Bagger, für eine Pumpstation der Wasserwerke wird Erde aufgewühlt. Hier zeigt sich die Stadt als ewige Baustelle, Vergrabenes drängt ans Licht, ihre Schichten geraten in Bewegung. Ein rostbraunes Rohr auf blauen Stelzen schwebt über der Szene. Hotelgäste betreten das Quartier durch eine Sackgasse zwischen Zaun und Gebäudemauer. Auf dem Trottoir dieses engen Winkels wird am heutigen Sonnabend der Stolperstein für Gertrud Grossmann verlegt, eine Messingplakette mit ihren Lebensdaten. Die schwierige Besitzerchronik des Hauses, das die Jüdin bis 1938 besaß und bewohnte, spiegelt in fünf Akten dramatische Phasen der Berliner Enteignungs-, Restitutions- und Erinnerungsgeschichte.

Akt eins startet 1888 mit dem Bau des Hauses im Stil des Historismus. Nachdem der Kaufmann Eugen Grossmann die Immobilie 1913 erworben hatte und 1931 gestorben war, erbt seine Witwe Gertrud Grundstück und Gebäude. Sie zieht selbst ein. Mieteinnahmen, so wollte das ihr Mann, sichern ihre Altersversorgung. Ihr jüngster Sohn Franz hat noch vor der Machtübernahme Hitlers eine katholische Frau geheiratet, das Judentum verlassen. Ein anderer Sohn, Hans, engagiert sich als Anwalt für die KPD. Er emigriert 1936, will über Persien und Britisch Indien in die USA gelangen.

Am 28. Juni 1943 wird Gertrud Grossmann nach Auschwitz gebracht

Der zweite, düstere Akt beginnt 1938. Gertrud Grossmann wird bei Androhung von KZ-Haft unter Druck gesetzt, das Haus zu verkaufen. Sie bittet den Juristen-Sohn um Rat. Da die deutsche Vertretung in Teheran auf Papiere von Hans Grossmann kein „J“ (= Jude) stempelt, gelingt ihm die Ein- (und Aus-)Reise. Von Verkaufsgesprächen berichtet er später, dass der Interessent Paul Berghausen seine Kontakte zur NSDAP betont und bemerkt habe: Er verfüge über Mittel, das Haus – so die Besitzerin sich weigere – in jedem Fall zu bekommen. Gertrud Grossmann erhält nur einen kleinen Teil des vereinbarten Barpreises. Berghausen macht Fasanenstraße 2 zum Hotel. Die 65-Jährige zieht mit Schwester Erna zur Halenseer Katharinenstraße. Der älteste Sohn Walter emigriert in die USA, für die Mutter fehlen Papiere. Sohn Hans, von den Briten in einem indischen Internierungslager festgehalten, steht mit ihr in Briefkontakt. Gertrud Grossmann sorgt sich um ihre katholischen Enkel jüdischer Abstammung. Als beide Schwestern 1942 den Deportationsbefehl erhalten, tauchen sie unter. Im märkischen Lychen werden sie 1943 denunziert, zur Sammelstelle Große Hamburger Straße gebracht, müssen dort – das letzte Dokument – Formulare über ihren Besitz ausfüllen. Mit dem 39. Transport vom 28. Juni 1943 wird Gertrud Grossmann nach Auschwitz transportiert und ermordet. Ihr katholischer Sohn Franz, ebenfalls 1943 deportiert aus Frankfurt am Main nach Auschwitz III-Monowitz, stirbt 1953 an Folgen des Lageraufenthaltes.

Akt drei führt an den Anfang der 1950er Jahre. Hans Grossmann hatte eine Berlinerin in Teheran kennengelernt und später geheiratet. Er war nach New York ausgewandert, wo seine Tochter Atina geboren wird. Erfüllt von Wut über das seiner Familie widerfahrene Unrecht prozessiert er in Berlin gegen den Hotelbesitzer. Der kontert: Es habe sich 1938 „um einen völlig unpolitischen und ... wirtschaftlich gerechtfertigten Vertrag“ gehandelt, „bei dem irgendwelche Zwangs- oder Druckmittel in keiner Weise angewendet worden sind“. Der niedrige Preis sei dem Zustand des Hauses angemessen gewesen. Berghausens Anwälte argumentieren: „Nicht darf man den Käufer für etwa von anderer Seite gegenüber der Verkäuferin im Rahmen der nazistischen Ideologie begangenes Unrecht verantwortlich machen, welches die Verkäuferin vielleicht nach 1942, nachdem sie aus dem hier streitigen Objekt ausgezogen war, erlitten hat.“ 1953 werden den Grossmanns von der Wiedergutmachungskammer 20 000 DM für die Fasanenstraße Nr. 2 zugesprochen.

Akt fünf ist für diesen Samstag angekündigt

Der vierte Akt spielt zwischen der Enkelin Gertrud Grossmanns und dem Enkel Paul Berghausens, am Hudson und an der Spree. 2002 recherchiert die Amerikanerin Atina Grossmann für den New Yorker „Aufbau“ über das Haus ihrer Großmutter. Sie ärgert sich, dass dem Astoria vom Regierenden Bürgermeister die Auszeichnung „Freundlichstes Hotel“ verliehen, die Arisierung aber verschwiegen wird. Christian Berghausen, der Besitzer, schreibt ihr unaufgefordert: Für ihn sei der Kauf von 1938 „juristisch abgeschlossen“. Jegliche „Kollektivverurteilung“ weist er zurück. Als Jahrgang 1948 sei er jemand, „der also nicht an den verbrecherischen Vorkommnissen dieser Zeit mitschuldig ist oder mitschuldig zu machen ist“. 2008 verkauft er das Astoria dem Unternehmer Frank Hägele (FH-Hotels), der es 2011an die DG Steinplatz 4 GmbH veräußert, von dieser pachtet und dessen Geschäftsführer bleibt. Atina Grossmann wird 2008/09 und 2014/15 zur Gastprofessorin auf den Walter-Benjamin-Lehrstuhl für deutsch-jüdische Geschichte und Kultur an der Humboldt-Universität berufen. 2012 hat sie für das Buch „Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzten Deutschland“ die Astoria-Story verarbeitet.

Akt fünf ist für diesen Samstag angekündigt. Vonseiten des Astoria gibt es gegen einen Stolperstein, den die Politologin Christl Wickert angeregt hatte, kein Veto. Um 14:30 Uhr soll er am Bauzaun verlegt werden. Allerdings sei es ein „heikles Thema“, sagt Marketing-Manager Alexander Deike, der das Verschweigen schwieriger historischer Details im Internet-Auftritt und im Astoria-Blog nicht schlimm findet; sich aber vorstellen kann, hier inhaltlich nachzubessern. Hans Fischer, Geschäftsführer der DG Steinplatz 4 GmbH, ist geneigt, Teilnehmer an der Stolperstein-Verlegung zum Kaffee einzuladen.

Fünf Grossmann-Generationen wollen kommen

Fünf Grossmann-Generationen haben sich angesagt! Die Enkelin aus New York bedauert, dass der Termin ein Samstag ist: dass wegen der Sabbat-Ruhe kein Rabbiner kommen und Kaddisch, das Totengebet, für die Großmutter sagen kann. Nun trifft sich dafür die konfessionell bunt gemischte Familie Samstag früh in der Synagoge. Die Messingplakette auf dem Bürgersteig, adressiert an Touristen und Berliner Passanten, sieht Atina Grossmann als Akt der historischen Gerechtigkeit. Der Vorhang fällt nicht, die Ausgrabungen der Erinnerung gehen weiter.

- Der Artikel erscheint auf dem Ku'damm-Blog, dem Online-Magazin für die westliche Innenstadt.

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