Dunkelziffer: Berlins wahre Kriminalitätsstatistik bleibt verborgen
Viele Straftaten werden nicht angezeigt, aus Scham, Angst oder bürokratischen Hindernissen. Umfragen bieten Einblicke, wie hoch das Ausmaß der Kriminalität in Berlin tatsächlich ist. Sollten subjektive Bewertungen in die Statistik aufgenommen werden?
Im Berliner Straßenverkehr gehören verbale Ausfälle und ungehörige Fingerzeige zum Alltag – würde jede Beleidigung angezeigt, hätte die Polizei viel zu tun. Und auch viele Fahrräder, die aus Hinterhöfen verschwinden, werden nicht als Diebstahl gemeldet.
494.385 Straftaten hat die Polizei im Jahr 2011 in Berlin offiziell gezählt. Die tatsächliche Kriminalität ist deutlich größer – denn viele Taten werden nicht polizeibekannt. Fachleute nennen die nicht registrierten Taten „Dunkelfeld“, umgangssprachlich meist Dunkelziffer genannt. Die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) hat nun für Berlin Zahlen der „wirklichen“ Kriminalität vorgelegt – das Ergebnis ist nach Angaben von Gewerkschaftschef Bodo Pfalzgraf „erschreckend“.
Demnach liegt die Kriminalität um ein Mehrfaches höher als die knapp 500.000 Taten, die die amtliche Kriminalstatistik (PKS) nennt. Allein für die elf Delikte mit den meisten Fallzahlen rechnet die Gewerkschaft mit insgesamt 2,6 Millionen Straftaten – das ist das Fünffache der offiziellen Zahlen.
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Die Polizeigewerkschaft beruft sich auf eine Dunkelfeld-Studie aus Sachsen. 4193 Haushalte hatte die Hochschule der Sächsischen Polizei in Kooperation mit dem Landeskriminalamt Sachsen angeschrieben, um zu erfahren, wer Opfer von Straftaten geworden ist. Eine der Fragen lautete zum Beispiel: „Ist ein von Ihnen genutztes Auto im vergangenen Jahr absichtlich beschädigt oder zerstört worden?“ Insgesamt wurde nach 27 Delikten gefragt, die etwa die Hälfte der Gesamtkriminalität darstellen.
Kürzlich hat der Leiter der Studie, Professor Karlhans Liebl, die Ergebnisse veröffentlicht. Ergebnis: Jede zweite Tat wird nicht angezeigt. Bei Sachbeschädigung liegt das Dunkelfeld demnach bei 52 Prozent, bei Fahrraddiebstahl bei 40 Prozent und bei Beleidigung bei 98 Prozent. Kriminologen kennen eine Vielzahl von Gründen dafür, warum Kriminalitätsopfer eine Straftat nicht anzeigen: Angst vor dem Täter, Desinteresse („für das alte Fahrrad lohnt sich keine Anzeige“), aber auch Scham spielen dabei eine Rolle. So ist es gerade älteren Menschen peinlich, betrogen worden zu sein.
Touristen, die beim Hütchenspiel betrogen wurden, scheuen eine Anzeige, weil sie von drei Tagen Berlin-Aufenthalt nicht drei Stunden auf der Polizeiwache sitzen wollen. Bei Delikten wie Kfz-Diebstahl oder Einbruch ist das Dunkelfeld dagegen gering, da Versicherungen den Schaden nur regulieren, wenn Anzeige erstattet wurde.
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Der Präsident des LKA Sachsen, Paul Scholz, hält die Studie für sinnvoll, „um einschätzen zu können, inwieweit polizeiliche Statistiken durch die Erkenntnisse zum Dunkelfeld angereichert werden können.“ Auch die Berliner Polizei nannte Dunkelfeldstudien in Form von Opferbefragungen „sinnvoll“. Manche Feststellungen der Gewerkschaft wurden aber kritisiert. So zum Beispiel die Hochrechnung von 868.000 Beleidigungen statt der registrierten 17.000. „Der Aussagewert für die polizeiliche Arbeit scheint äußerst fraglich“, heißt es aus dem Präsidium.
Bodo Pfalzgraf von der Polizeigewerkschaft forderte am Dienstag Innensenator Henkel (CDU) auf, eine ähnliche Studie für Berlin zu beauftragen: „Neben der PKS muss es jährliche Befragungen der Berliner zu ihrem subjektiven Sicherheitsgefühl geben.“ Die Kriminalitätswirklichkeit müsse ernster genommen werden, sagte Pfalzgraf und lobte Länder wie die USA oder England, wo subjektive Bewertungen Eingang auch in die offizielle Statistik finden. Wie Pfalzgraf betonte, wird in den USA auch der Personalbedarf der Polizei an dieser Gesamtbetrachtung der Lage festgemacht.
Auch die Polizei selbst weist im Vorwort zu ihrer jährlichen Kriminalitätsstatistik darauf hin, „dass der Polizei ein Teil der begangenen Straftaten nicht bekannt wird.“ Gänzlich aufhellen kann auch die sächsische Studie die tatsächliche Kriminalität nicht. Denn Täter wurden nicht befragt, dies wäre aber erforderlich, um so genannte opferlose Delikte wie Rauschgiftkriminalität, Sozialleistungsbetrug oder Verkehrsdelikte aufzuhellen.
Jörn Hasselmann