Position: Berlins Kaufleute tragen eine Mitschuld an der Pogromnacht von 1938
Verlustgeschäft: Neben jüdischen Gotteshäusern wurden mehr als 1000 jüdische Ladengeschäfte allein in Berlin im Pogrom vom 9. November 1938 geplündert und demoliert. Berlins Kaufleute waren Nutznießer und Mittäter.
Jüdische Kaufleute haben die Geschichte des deutschen Einzelhandels vor der nationalsozialistischen Machtübernahme maßgeblich geprägt. Über Jahrhunderte in ihren staatsbürgerlichen Rechten und den Möglichkeiten der Berufswahl und Berufsausübung diskriminiert und eingeschränkt, war der Handel eine der wenigen Domänen jüdischen Unternehmertums.
So waren es auch zumeist jüdische Kaufleute, die vor 120 Jahren das Gebot der Stunde erkannten und von ihren kleinen Einheitspreisgeschäften den Schritt zum großen, viele Sortimente beinhaltenden Warenhaus mit Angeboten auf mehreren Etagen in den Städten machten. Allen voran sicherlich als bedeutendster Vertreter Oscar Tietz mit seinem späteren „Hermann Tietz“-Konzern, aber auch und gerade hier in Berlin Georg Wertheim und Adolf Jandorf, der Begründer des KaDeWe. Aber auch mehrere tausend kleinerer Läden wurden überall in Berlin zu Beginn der 30er Jahre von jüdischen Inhabern betrieben.
In Diskussionen und Informationen über Judenfeindlichkeit und Judenverfolgung in Deutschland wird häufig übersehen, dass der Anteil der Juden an der Bevölkerung des Deutschen Reiches ein sehr geringer war. Nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung war jüdisch. Aber gut ein Viertel aller Ladengeschäfte im Deutschen Reich und sogar drei Viertel aller Kauf- und Warenhäuser wurden von jüdischen Kaufleuten betrieben.
Neid, Missgunst und Antisemitismus verbanden sich früh zu einer gefährlichen Ideologie, die später zum festen Bestandteil im Konstrukt nationalsozialistischer „Weltanschauung“ wurden .
Unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme erfolgte der erste Angriff auf jüdische Kaufleute mit der Boykottaktion vom 1. April 1933. Etwa zur gleichen Zeit wurden dem Kaufhauskonzern Hermann Tietz, der infolge der Auswirkungen von Weltwirtschaftskrise und den Boykottmaßnahmen der Nazis in eine vorübergehende Schieflage geraten war, kurzerhand notwendige und auch bereits zugesagte Kredite verweigert und Kreditlinien gestrichen.
Als „Retter“ präsentierten die Nazis dann ihnen genehme nichtjüdische Manager, die mit der Aussicht auf neue Kredite in dem Konzern installiert wurden. Innerhalb weniger Monate wurden so die jüdischen Inhaber Georg und Martin Tietz und ihr Schwager, Dr. Hugo Zwillenberg, dazu gedrängt, das Unternehmen zu verlassen und den damals weltweit größten Warenhauskonzern in Familienbesitz für einen Bruchteil des tatsächlichen Wertes an die Ariseure abzutreten.
Das Schicksal von „Hermann Tietz“ steht exemplarisch für die 1933/34 beginnende Auslöschung jüdischen Unternehmertums im Handel. Viele gleich schwere Schicksale folgten. Neben jüdischen Gotteshäusern waren es dann auch mehr als 1000 jüdische Ladengeschäfte, Kauf- und Warenhäuser, die im Pogrom vom 9. November 1938 allein in Berlin geplündert und demoliert wurden.
Nach Jahren der Unterdrückung, Ausgrenzung, Entrechtung, Diskriminierung jüdischer Menschen, Einrichtungen und Unternehmen folgte in jener Novembernacht gewissermaßen der „Probelauf“ für die nächsten Schritte hin zum systematischen Massenmord an den Juden. Das Ausland protestierte nicht oder vergleichsweise moderat und das eigene Volk zeigte sich im Wesentlichen bereit, mindestens zu schweigen und wegzusehen oder sogar aktiv mitzutun.
Und immer gab es jemanden, der den Laden, das Kaufhaus weiterführte und so zum Nutznießer und oft zum Mittäter wurde. An diesen Aspekt der Pogromnacht erinnern der Handelsverband Berlin-Brandenburg und Verdi gemeinsam mit dem Centrum Judaicum dieser Tage mit einer Plakataktion. Wir sind es den Opfern und der eigenen Zukunft schuldig.
Der Autor ist Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Berlin-Brandenburg.
Nils Busch-Petersen
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