Die Zukunft der Hauptstadt: Berlins Agenda 2030
Um eine Viertelmillion Menschen wird Berlin wachsen. Was bedeutet das für Stadtentwicklung, Schulen oder Integration? Wir werfen einen Blick in die Zukunft – und analysieren, was auf die Metropole zukommt und was deshalb zu tun ist.
Berlin wächst, 250 000 Menschen mehr sollen bis 2030 in der Stadt leben. Schon jetzt kommen viele Zuzügler. Und die Wirtschaft wächst. Doch der Zuwachs, den die Bevölkerungsprognose des Senats verspricht, wird allein nicht ausreichen, um die in vielen Städtevergleichen hinten stehende Hauptstadt nach vorn zu bringen. Ein genauer Blick auf die Prognose zeigt: Vor allem die Zahl der über 80-jährigen steigt – aber auch die der Kinder. Berlins Zukunft kann gut aussehen, wenn sich die Stadt vorbereitet. Das Potenzial ist da.
Im Vergleich zu anderen Metropolen hat Berlin viel zu bieten: Große innerstädtische Freiflächen und viele kleine Lücken, von denen andere Ballungsräume nur träumen können, vier Universitäten, Parlament und Regierung, Gesundheitswirtschaft, Kreativkultur, Forschung, Grün und Natur im Umland – all das lockt schon heute gebildete Zuwanderer und bietet Chancen für Entwicklung. Berlin hätte Platz für eine Million Menschen mehr und könnte zum urbanen Labor des 21. Jahrhunderts werden. Es braucht Mut, sich zu einer ambitionierten Zukunftsvision zu bekennen – und es gehört Entschlossenheit dazu, die Chancen zielstrebig zu nutzen.
In der überschuldeten Hartz-IV-Hauptstadt der Bildungsbrandbriefe und Integrationsprobleme erscheinen oftmals die Mittel für die nötige Zuversicht begrenzt, die Politik und Bürger dringend nötig hätten. Die Zeit, um Berlin fit für die Zukunft zu machen, läuft längst. Hier ein Überblick über die Herausforderungen, die es anzupacken gilt – unsere Agenda 2030.
Seniorengerechter Stadtumbau
Am stärksten wächst die Zahl der über 80-jährigen: knapp 120 000 mehr Alte in der Stadt, das entspricht fast der Hälfte des Bevölkerungsplus insgesamt. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit hatte dazu Strategisches in einer Grundsatzrede vor mehr als zwei Jahren angekündigt. Bis heute wurde nichts Bedeutsames vorgelegt. Stattdessen werden leicht umsetzbare Vorschläge blockiert, wie zum Beispiel die Einführung eines Zertifikats „Besonders altersgerechtes Wohnen“. Reiner Wild, Chef des Berliner Mietervereins und Mitinitiator des Vorschlags, sagt: „Das würde die Suche nach barrierefreien Wohnungen erleichtern und eine Vergleichbarkeit herstellen.“ Der Senat habe die Einführung des Zertifikats jedoch letztlich nicht befördert.
Viel mehr Kinder – doch Schulen fehlen
In Berlin leben im Jahr 2030 wesentlich mehr Kinder als heute. Das ist vor allem mit Blick auf drohende Überalterung eine gute Nachricht. Aus der ergeben sich aber Aufgaben für die Bildungs- und Baupolitik: Nach Prognosen der Stadtenwicklungsverwaltung steigt die Zahl der Schüler um rund 64 000 auf etwa 400 000 Schüler – so viele gab es zuletzt zu Nachwendezeiten. Am stärksten ist der Zuwachs im Bezirk Pankow. Er liegt mit über 16 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in der gesamten Stadt und weit vor dem zweitplatzierten Friedrichshain- Kreuzberg mit 8,6 Prozent. Auch in Marzahn-Hellersdorf wird die Schülerzahl überdurchschnittlich wachsen.
Für die Bezirke bedeutet das, dass sie zusätzliche Schulgebäude brauchen und etliche der rund 250 still gelegten Schulen wieder in Betrieb nehmen müssen. Pankows Bildungsstadträtin Lioba Zürn- Kasztantowicz (SPD) geht davon aus, dass sie pro Jahr im Schnitt eine neue Schule braucht. Weniger Sorgen machen die Kitas. Die Altersgruppe der Kinder unter sechs Jahre bleibt mit 200 000 Jungen und Mädchen ungefähr konstant.
Neue Verkehrsverbindungen
Rund 250 000 Menschen mehr bedeuten auch mehrere Hunderttausend Kilometer mehr, die mit Fahrrad, Auto sowie Bus oder Bahn täglich zurückgelegt werden. „Der aktuelle Stadtentwicklungsplan Verkehr geht immer noch von sinkendem Aufkommen im Straßenverkehr aus“, warnt Christian Wiesenhütter, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer. Für die IHK gehören zu den wichtigsten Vorhaben neben dem bislang nur als Pannenprojekt geltenden Flughafen BER und der Stadtautobahn A100 die Tangentialverbindung Ost, die Dresdner Bahn, die Ortsumfahrung Ahrensfelde sowie die Bahnstrecken nach Stettin und Breslau. Die Grünen dagegen empfehlen einen Ausbau der Fahrradwege, weil die zunehmene Zahl von Elektrofahrrädern noch mehr Menschen den Umstieg erleichtert. Auch die Lücken im S-Bahn-Netz bei den Verbindungen ins Umland sollten geschlossen werden.
Obwohl der Nahverkehr in Berlin nach Ansicht von Experten so ausgebaut ist, dass er auch das Aufkommen von rund fünf Millionen Einwohnern bewältigen könnte, wird derzeit die U 5 vom Alexanderplatz zum Brandenburger Tor verlängert und eine S-Bahn-Strecke vom Nordring zum Hauptbahnhof gebaut. Zudem plant der Senat weitere Straßenbahn-Projekte – über die Leipziger Straße zum Kulturforum oder von Adlershof zum Bahnhof Schöneweide. Bis 2020 sollen alle Bahnhöfe der BVG zudem barrierefrei sein, wichtig für eine Stadt mit vielen älteren Fahrgästen.
Einwanderung als Chance
Berlin braucht Zuwanderung, in Zukunft noch mehr als heute. Je stärker die Zahl der jungen Berufstätigen sinkt, desto mehr stellen gut ausgebildete Migranten eine Chance für die Stadt dar. „Berlin braucht qualifizierte Zuwanderung, um seine Bevölkerungszahl stabil zu halten und gleichzeitig ökonomisch konkurrenzfähig zu sein“, heißt es in einer Analyse des Senats. Also muss Berlin stärker als bisher gut ausgebildete Menschen aus dem Ausland in die Stadt locken. Einwanderungszentren wie London oder die kanadischen Großstädte Toronto und Vancouver machen vor, dass diese Einwanderung zu immer größeren Teilen aus außereuropäischen Kulturkreisen kommt – und entsprechende Eingliederungshilfen wie auch Mitsprachemöglichkeiten noch nötiger werden als bei den bisher meist aus dem europäischen Ausland kommenden Einwanderern.
Zugleich kann damit gerechnet werden, dass die größeren schon bestehenden Berliner Einwanderer-Gemeinschaften wie die der Türken und der Polen zunehmend ihr wirtschaftliches Potenzial entfalten und einen wachsenden Anteil der Mittelschicht stellen – und dadurch auch politisch und gesellschaftlich eine wachsende Rolle spielen.
Es mangelt an günstigen Wohnungen
Nach einer Studie des Pestel-Instituts fehlen in Berlin rund 428 000 Sozialwohnungen. Die Hauptstadt habe einen Bedarf von 641 000 Sozialwohnungen, es seien aber nur 213 000 auf dem Markt. Hinzu kommt: Die Mieten bestehender Sozialwohnungen kosten im Durchschnitt 40 Prozent mehr als ortsüblich, so der Berliner Mieterverein.
Neu gebaut wird zwar – aber vor allem entstehen Lofts und teures Wohneigentum. Deshalb muss der Senat dringend den Rahmen schaffen, damit neuer Wohnraum zu günstigen Mieten entsteht. Denn Berlin wächst nicht schnell genug, damit besser bezahlte Stellen für die vielen Langzeitarbeitslosen und schlecht ausgebildeten Mini-Jobber entstehen. Und diese Gruppe findet schon heute keine für sie bezahlbare Wohnungen. Sogar die Industrie- und Handelskammer fordert nun „landeseinheitliche Regelungen für bezahlbares Wohnen der Mittelschicht“. Außerdem müssten bei Neubauten „prozentuale Anteile von Wohnungen mit niedrigen und mittleren Mieten für eine bestimmte Laufzeit mit verbindlicher Maximalhöhe“ festgelegt werden.
Ansturm der Studenten
Hat Berlin zu wenig Studienplätze geschaffen? Momentan gibt es in Berlin so viele Studierende wie noch nie: über 160 000. Der Senat hat umgesteuert: Nach zwei großen Sparrunden im Jahr 1998 und 2004 waren Tiefststände mit nur rund 132 000 Studierenden erreicht. Seit fünf Jahren legt Berlin rasant zu. Dabei greift es auf Mittel aus dem Hochschulpakt von Bund und Ländern zu. Der Bund übernimmt dabei die Hälfte der Mittel, momentan 100 Millionen Euro. Die im Pakt getroffene Verabredung, 19 500 Studienanfänger jährlich aufzunehmen, hat Berlin bei weitem übertroffen. In diesem Jahr nahm es rund 31 500 Studienanfänger auf. Dennoch ist die Nachfrage weit größer als das Angebot.
Auch viele Berliner Abiturienten scheitern am Numerus clausus. Die Landeskinder zu bevorzugen, verbietet aber die Verfassung. Schon die jetzige Zahl von Studierenden ist aber nach Meinung der Uni-Präsidenten nur zu halten, wenn Berlin zehn Prozent mehr Geld in die Grundfinanzierung steckt. Zurzeit ist es – ohne Charité – knapp eine Milliarde Euro. Für Hochschulbauten fehlt eine zusätzliche Milliarde, meinen die Präsidenten. Und das Studentenwerk vermisst Mittel für Mensen und neue Wohnheime.
Berlin ist aber eine verschuldete Stadt. Die nationale Aufgabe, drei konkurrenzfähige Unis zu betreiben, kann es nicht allein schultern, geschweige denn, noch mehr Studienplätze aufbauen. Aber auch den anderen Ländern geht finanziell die Puste aus. Darum wird allgemein erwartet, dass es zu einer Verfassungsreform kommt, die dem Bund ein weit größeres finanzielles Engagement für die Unis erlaubt. Dann könnte Berlin vielleicht doch noch mehr Studienplätze aufbauen.
Wenig Geld und viele Aufgaben
Hat das hoch verschuldete Berlin 2030 genug Geld, um als wachsende Millionenstadt nicht nur zu überleben, sondern im internationalen Wettbewerb der Metropolen bestehen zu können? Die Chancen sind da, aber die Risiken sind groß. Die gute Nachricht ist: Mit der Einwohnerzahl steigen auch die Steuereinnahmen. Für die Ansiedlung von Unternehmen mit zehntausenden zusätzlichen Arbeitsplätzen hat Berlin genügend Raum. Die Wirtschaft könnte prosperieren. Und momentan sieht es so aus, als ob die Stadt in den nächsten Jahren keine neuen Schulden mehr anhäufen würde. Auch das entlastet die öffentliche Kasse.
Doch jetzt die schlechte Nachricht: Mehr Einwohner brauchen auch mehr Kitas, Schulen und Universitäten, der öffentliche Nahverkehr muss leistungsfähiger werden, aber auch die Müllabfuhr. Die gesamte Infrastruktur muss angepasst werden, das kostet viel Geld. Hinzu kommen finanzpolitische Risiken. Denn auch 2030 wird Berlin voraussichtlich noch auf den bundesstaatlichen Finanzausgleich angewiesen sein. Aber sind Bund und Länder dann noch willens und fähig, Berlin ausreichend zu alimentieren? Ein Damoklesschwert sind auch die Zinsen für Berlins Schuldenberg von über 60 Milliarden Euro. Die Niedrigzinsphase wird nicht noch zwei Jahrzehnte andauern. Nur ein Prozent mehr würde jährlich rund 600 Millionen Euro zusätzlich kosten. Der Finanzminister von Berlin-Brandenburg, den wir 2030 für ein dann hoffentlich vereintes Land haben, ist jetzt schon nicht zu beneiden.
Anja Kühne, Klaus Kurpjuweit, Ralf Schönball, Susanne Vieth-Entus, Sylvia Vogt, Lars von Törne, Ulrich Zawatka-Gerlach
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