Ein Jahr nach der Air-Berlin-Pleite: Berlins Abstieg zum prekären Luftfahrtstandort
Vor einem Jahr musste Air Berlin Insolvenz anmelden. Für den Luftfahrtstandort Berlin geriet die Pleite zur Zäsur, von der er sich noch lange nicht erholt hat.
Wollte man den geflügelten Satz, nach dem Berlin „arm, aber sexy“ sei, über den Wolken prüfen, führt der Weg zunächst mal nach Brandenburg. Rund 20 Kilometer hinter der östlichen Stadtgrenze, irgendwo hinter Hellersdorf und Marzahn, liegt der Flugplatz Strausberg. Und der funktioniert sogar. Dort kann man sich mit Sebastian Thiele verabreden, 28 Jahre alt, Pilot. Das klingt zunächst nach Glamour, doch Thiele tritt man nicht zu nah, wenn man ihn als eher bodenständig denn glamourös beschreibt. Der junge, schlaksige Mann lebt in Berlin und pendelt täglich mit der S-Bahn vom Ostkreuz aus nach Strausberg, wo er als Flugzeugingenieur für eine Firma am Flugplatz arbeitet.
Zum verabredeten Treffpunkt am Tower des einstigen sowjetischen Militärflugplatzes kommt Thiele mit einem klapprigen Fahrrad. Dort bittet er, ihm zu folgen. Es geht ein paar Hundert Meter über Panzerplatten zu einem runden Hangar am Rande des Flugfelds. Darin stehen sechs kleine Sportflugzeuge auf einer Drehbühne aus Holz. Es ist eine eigentümliche und spektakuläre Konstruktion, die Thiele per Knopfdruck rotieren lässt, bis eine Piper 28 auf der Ausfahrtposition steht. Die Piper ist ein Propellerflugzeug, das deutlich älter als das Fahrrad des Piloten ist – 51 Jahre. Man fragt sich ganz unwillkürlich, wie gut die Idee eigentlich ist, mit einem derart betagten Fluggerät in die Lüfte zu gehen. „Die Motoren werden bei solchen Flugzeugen alle 2000 Flugstunden gewechselt“, sagt Thiele, der die Bedenken offenbar spürt. Das sei Vorschrift und diene der Sicherheit. Beruhigend.
Abstieg zum prekären Luftfahrtstandort
Fliegen in und über Berlin ist mittlerweile tatsächlich wie die Stadt selbst: eine bescheidene Sache, aber nur bedingt sexy. Die Metropole ohne Glamour inszeniert auch die glamouröseste Form der Fortbewegung mittlerweile recht pragmatisch.
Der endgültige Abstieg zum prekären Luftfahrtstandort fand 2017 statt – fünf Jahre nach dem avisierten und bis heute nicht realisierten Eröffnungstag des Hauptstadtflughafens BER. Vor genau einem Jahr musste Air Berlin Insolvenz anmelden. Rund 8000 Mitarbeiter verloren ihren Job, viele fanden wenigstens recht zügig neue Arbeitgeber. Die Bundesregierung half mit einer umstrittenen Bürgschaft in Höhe von 150 Millionen Euro, den Betrieb der Airline bis Oktober 2017 fortzuführen. Tausende Urlauber, so das Kalkül, sollten nicht in der Ferne und Fremde ausharren und improvisieren müssen, um nach Hause zu kommen.
Bis jetzt sind knapp 75 Millionen Euro des Geldes an die Kreditanstalt für Wiederaufbau zurückgeflossen. Doch es gab auch einen Gewinner des Debakels: Easyjet. Für 40 Millionen Euro übernahm die Billigfluglinie 25 der geleasten Airbus 320 von Air Berlin sowie Start- und Landerechte am Flughafen Tegel, der neben Schönefeld zur zweiten Berlin-Basis der britischen Fluglinie wurde. Das Unternehmen will die Hauptstadt zum wichtigsten Standort außerhalb Großbritanniens ausbauen.
Das Gegenteil vom Flugdiscounter Easyjet ist die Privatfliegerei. Wingly will das ändern. So heißt die Mitflugzentrale, bei der Thiele seine Dienste anbietet. Die französische Plattform – eine Art Airbnb des Himmels – hat das Treffen mit ihm in Strausberg arrangiert. Das Geschäftsmodell des Start-ups aus dem wirklich glamourösen Paris passt wie die Faust aufs Auge ins prekäre Berlin. Denn Wingly, in das auch Ex-Vizekanzler und Privatpilot Philipp Rösler (FDP) investiert hat, macht es für alle Beteiligten etwas günstiger. Ein Problem vieler Freizeit- und Hobbypiloten: Sie müssen zwölf Flugstunden zusammenbekommen, wenn alle zwei Jahre die Verlängerung ihrer Lizenz ansteht. „Und das geht ins Geld“, sagt Thiele. Bei Wingly findet er Mitflieger, die sich an den Kosten für Treibstoff und Verschleiß beteiligen und so vergleichsweise günstig das Abenteuer Privatflug erleben können.
Für 250 Euro nach Köln
Im Raum Berlin findet das Wingly-Geschäft hauptsächlich an den Flugplätzen Strausberg, Bienenfarm und Schönhagen statt. Rund 130 Hobbypiloten bieten hier ihre Ultraleichtflieger, Cessnas, Pipers und ihre Fähigkeiten zum Mitfliegen an. Meist gibt es Rundflüge über der Hauptstadt aber auch mal Flüge nach Usedom, Rügen, Hamburg oder ins nahe Ausland. Während Rundflüge meist um die 60 Euro pro Person kosten, gibt es die Strecke Berlin–Köln schon mal für 250 Euro, ins schwedische Lidkoping kalkuliert Wingly sogar 330 Euro. So haben die Franzosen mittlerweile an Piloten in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich oder England mehr als 620 000 Euro ausgezahlt. 150 000 Nutzer sind bei der Firma registriert, die 2015 gegründet wurde. In Deutschland sind 3000 von ihnen Piloten.
Einer ist Sebastian Thiele, und der hat mittlerweile auf dem Pilotensitz der Piper seine Checkliste abgearbeitet. Als Passagier nimmt man auf dem Sitz des Co-Piloten Platz und beobachtet den Profi beim Hand- und Funkwerk. Auf den Ohren befindet sich das Headset, denn schon auf dem Rollfeld könnte man sich ohne nicht mehr unterhalten. Mit Wingly bekommt man Abenteuer, keine Entspannung. Ein kleines Privatflugzeug ist laut, es ruckelt gewaltig und riecht nach Benzin. Kurz nachdem der Tower die Freigabe erteilt hat, nimmt die Piper Anlauf, sanft hebt sie in Strausberg ab. Nach einer kurzen Wende nimmt Thiele Kurs auf Berlin. Nach wenigen Minuten ist die Hauptstadt erreicht.
Im Südosten kann man Schönefeld und den BER erahnen, im Norden Tegel. Man könnte glauben, sich über einer Luftfahrtmetropole zu befinden. Doch das Gegenteil ist der Fall. Wer Europa verlassen will, muss fast immer an einem der Drehkreuze umsteigen. Lediglich 21 außereuropäische Interkontinentalziele sind von den beiden Berliner Flughäfen erreichbar – davon sieben auf der Langstrecke. Vor wenigen Wochen brachte das Onlineportal „Airliners“ die Nachricht, dass nach einer internen Aufstellung des Flughafenbetreibers FBB die Zahl der Interkontinentalverbindungen in den vergangenen zehn Jahren um 76 Prozent zurückgegangen sei. So konzentriert sich die Lufthansa auf München und Frankfurt, einen Direktflug nach New York hat sie im Frühjahr eingestellt. Lediglich sechs nichteuropäische Ziele sind von Tegel oder Schönefeld aus erreichbar.
Lufthansa: Berlin ist kein Wirtschaftszentrum
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) hat die Lufthansa deshalb kritisiert und verlangt bessere Verbindungen und ein Bekenntnis zum Standort: „Ich wünsche mir, dass das Unternehmen sein Engagement in der Hauptstadt ausweitet. Berlin zieht immer mehr Menschen aus beruflichen, aber auch aus touristischen Gründen an. Das Einstellen der Direktverbindung nach New York ist deshalb falsch und gegen den langfristigen Entwicklungstrend der Stadt“, sagt Müller. Ähnliche Töne kommen aus der Industrie- und Handelskammer: „Berlin ist die Hauptstadt der größten und wichtigsten Volkswirtschaft als auch der wissenschaftliche Hotspot Europas“, sagt Vizegeschäftsführer Christoph Irrgang. Man halte den Berliner Markt „für mindestens vergleichbar mit dem Brüsseler Markt“. Und dort gebe es 78 direkte Langstreckenverbindungen. Die Nachfrage nach solchen Flügen sei viel größer als das Angebot. Außerdem: „Das anhaltende Wirtschaftswachstum der Hauptstadtregion bietet für Airlines heute große Potenziale, neue Langstrecken erfolgreich zu betreiben“, glaubt Irrgang.
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Diese Versuche, der Lufthansa ihr Geschäftsmodell zu erklären, und der latente Vorwurf, die Airline würde Berlin stiefmütterlich behandeln, nerven das Unternehmen mittlerweile. „Wir binden die Hauptstadt gut an. Dennoch hat Berlin keine Dax-Konzerne, ist auch sonst kein Wirtschaftszentrum und bekommt den Flughafen nicht fertig“, sagt Kay Lindemann, Cheflobbyist der Lufthansa. „Angesichts der überschaubaren wirtschaftlichen Kraft Berlins kann man von uns nicht verlangen, die Stadt mit vielen Direktverbindungen an die Wirtschaftsmetropolen dieser Welt anzubinden. Berlin als alleiniger Quellmarkt füllt solche Nonstopverbindungen aktuell nicht, wie wir und andere bereits mehrfach schmerzlich erfahren mussten.“
München und Frankfurt hätten ein anderes Passagieraufkommen in der direkten Umgebung und seien gewachsene Drehkreuze. „Dass nur wenige andere Airlines Berlin direkt anfliegen, zeigt ebenfalls, dass der Berliner Markt nicht einfach ist“, sagt Lindemann. Hinzu kommt die Historie: Bis 1990 durfte die Lufthansa das geteilte und besetzte Berlin nicht anfliegen. Lindemann: „Da Berlin jahrzehntelang isoliert und für deutsche Airlines nicht erreichbar war, haben wir notgedrungen erst in Frankfurt und dann in München unsere Drehkreuze aufgebaut. Die Uhr lässt sich nun mal nicht um Jahrzehnte zurückdrehen.“
Thiele steuert die Piper an einem Mahnmal besserer Zeiten vorbei. Das Tempelhofer Flugfeld passiert das Flugzeug im Süden, eine großzügige Kurve leitet den Rückflug nach Strausberg ein. Die Landung ist nicht ganz so sanft wie der Start – ehrlicher, härter und direkter. Wie Berlin. Ganz schön sexy.
Dieser Artikel erschien in der wöchentlichen Sonderseite "Berliner Wirtschaft". Folgen Sie uns auf Twitter für Updates: @BRLNRwirtschaft
Jan-Phillip Hein