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Tradition inmitten der Großstadt: der Rüdesheimer Platz.
© Kitty Kleist-Heinrich

Einkaufsstraßen-Report: Mittelständler am Rüdesheimer Platz behaupten sich

Am Rüdesheimer Platz gibt es hundert Jahre alte Traditionsgeschäfte und sogar Wein aus Wilmersdorfer Anbau. Der Einzelhandel sieht sich aber auch hohen Mieten und der Konkurrenz durch Einkaufszentren gegenüber.

In Berlin liegt ein kleines Stückchen England. Der Rüdesheimer Platz im City-West-Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf ist ein gepflegter Park mit Brunnen, Sitzbänken und Kinderspielplatz, umgeben von Häusern im englischen Landhausstil, von denen Gartenterrassen zum Bürgersteig führen. Zum Ende der Kaiserzeit entstand der Platz in Anlehnung an die englischen Gartenstädte. Noch heute strahlt der Rüdesheimer Platz trotz kleiner Veränderungen die Atmosphäre seiner Entstehungsjahre aus, denn weite Teile des Platzes und viele umliegende Häuser stehen unter Denkmalschutz.

1911 wurden die ersten Häuser fertiggestellt und die Grünanlage mit einem Gartenfest eingeweiht – dieses Jahr feiert der Rüdesheimer Platz seinen 100. Geburtstag. Er ist das Zentrum des Rheingauviertels, die einmündenden Straßen wie die Wiesbadener oder die Aßmannshauser Straße weisen auf die Partnerschaft mit der Rheingau-Taunus-Region hin. Besucher des „Rüdi“, wie der Platz auch genannt wird, bemerken noch vor dem Verlassen der U-Bahn, dass der Kiez sich dem Wein verschrieben hat: Die Dekoration des von Architekt Wilhelm Leitgebel gestalteten Bahnhofs mit Trauben, Weinblättern und Insekten an den Wänden und Decken brachte den nicht erfindungsmüden Berliner dazu, ihn fortan „Wanzenbahnhof“ zu nennen.

Beherrscht wird der Platz vom Siegfriedbrunnen, der Mutter Mosel, Vater Rhein und den Rosslenker Siegfried darstellt. Über die vielen Jahre schaute er zuerst auf eine große Rasenfläche, dann auf einen Bolzplatz und seit den späten 70er Jahren auf ein farbenfrohes Blumenmeer zwischen Pflasterwegen. Manchmal musste der Brunnen auch als Klettergerüst herhalten, inzwischen können die Kinder dafür einen Spielplatz gegenüber nutzen. Auch das älteste Fest des Rüdesheimer Platzes ist dem Wein gewidmet: Jeden Sommer sprudelt hier seit 1967 der „Rheingauer Weinbrunnen“.

Drei Winzer aus dem Rheingau-Taunus schenken von Mai bis September ihre Weine und Sekte aus, das Essen bringen die Weinliebhaber selber mit. Nicht nur „Importwein“ wird hier angeboten: 1984 schenkten Rheingauer Winzer dem Bezirksamt 200 Rebstöcke, die in der Nordkurve des Wilmersdorfer Stadions ein Zuhause fanden. Seitdem wird jedes Jahr die „Wilmersdorfer Rheingauperle“ in Flaschen gefüllt.

Wenn der Weinbrunnen Mitte September aufhört zu sprudeln, sorgt die Weinhandlung Hertz von Ehepaar Gisela und Claus Hertz dafür, dass trotzdem niemand auf Wein aus dem Rhein-Taunus verzichten muss. „Wenn das Fest vorbei ist, können die Leute bei mir ins Regal greifen und den gleichen Wein zu Hause trinken, den sie beim Weinfest sehr mochten“, sagt Gisela Hertz und lächelt. Rund 300 Sorten Wein, Sekt und Champagner hat die Weinhandlung im Angebot. Seit 13 Jahren führt Gisela Hertz den Laden, ihr Mann kümmert sich um das zweite Geschäft in der Leonhardtstraße. Der Laden war beim Ehepaar Liebe auf den ersten Blick: „In diese Ecke gehört ein Weinladen.“ Große Fensterläden, hohe Decken und die Hausfassade mit Weinmotiven geben den vielen Flaschen die richtige Wirkung.

Falls ein Kunde nicht so vertraut mit dem Sortiment ist wie Hertz’ Stammkunden und etwas ratlos in dem 70 Quadratmeter großen Flaschenmeer steht, hilft Gisela Hertz, den richtigen Geschmack zu finden. Dabei helfen auch andere Käufer, die bei einer Weinberatung schon mal von der anderen Ecke des Ladens rüberrufen: „Den kann ich nur empfehlen!“ Der Weinbrunnen sei für ihren Laden eine Bereicherung, meint die Inhaberin. Er wirke wie ein Magnet und so kämen auch Weinliebhaber aus anderen Bezirken zum Rüdesheimer Platz und entdeckten ihren Laden. „Ansonsten ist das hier keine Laufgegend.“

Charlottenburg-Wilmersdorf gilt als Bezirk der Besserverdiener: Neben vielen Kreativen, die seit der Künstlerkolonie der 20er Jahre hier wohnen, sind überdurchschnittlich viele Ärzte und Anwälte im Bezirk angesiedelt. Für Ladenbesitzer ist das einerseits attraktive Kundschaft, andererseits zahlen sie selbst hohe Gewerbemieten. Wolfgang Hanisch betreibt mit seiner Frau das Kindermodengeschäft Brummelinchen in der Landauer Straße. Manche Geschäfte zahlten hier eine Miete „wie auf dem Ku’damm“, erzählt er. Das Kindermodengeschäft gibt es schon 15 Jahre, heute „trägt es sich gerade so“. Nicht nur, weil die Mieten hoch sind, sondern auch weil die Umsätze seit der Eröffnung des Einkaufscenters Schloss an der nahen Schloßstraße rückläufig sind. Während die nicht so rüstigen älteren Anwohner gerne im Kiez einkauften, führen die Jüngeren lieber in die Einkaufszentren.

Lesen Sie auf Seite 2, wie sich eine familiengeführte Schusterei behauptet.

„Die Center sind das größte Gift für uns“, sagt Hanisch. Er und andere Einzelhändler haben bei den Mittelstandsgesprächen des Bezirksamtes um mehr Unterstützung gebeten. Immerhin wurden ihm vor seinem Geschäft zwei Kundenparkplätze zugestanden – die sind am Rüdesheimer Platz Mangelware, während die Einkaufszentren riesige Parkhäuser haben.

Allen Widrigkeiten zum Trotz findet Wolfgang Hanisch, der Rüdesheimer Platz und seine Umgebung hätten „insgesamt eine gesunde Struktur“. Um diese zu erhalten und zu stärken, gründete er vor über sechs Jahren den gemeinnützigen Verein Rüdi Net und ist heute sein stellvertretender Vorsitzender. Aus einer Interessengemeinschaft von einer Handvoll Engagierter wurde ein Verein mit heute rund 200 Mitgliedern, sowohl Anwohnern als auch Gewerbetreibenden. Der Leerstand und die Fluktuation am Rüdesheimer Platz sind vergleichsweise gering.

Gibt es doch einmal eine Lücke, überlegt Rüdi Net gemeinsam mit den Hauseigentümern, welche Mieter gut für den Platz sein könnten. So wirkte der Verein etwa auf den Einzug der Neuland-Fleischerei Kluge und der Bio Company hin. Arbeitsgruppen des Vereins planen Händler-Rabattaktionen, arbeiten mit Zeitzeugen die Historie des Platzes auf, sammeln Spenden für die Aufstockung des Baumbestandes oder organisieren das jährliche Sommerfest. Diesmal fand das Fest unter dem Motto „100 Jahre Rüdesheimer Platz“ statt, Wolfgang Hanisch organisierte wie in den Jahren zuvor den Kunstmarkt in der Landauer Straße. So möchte er Fußgänger in die Seitenstraßen locken, denn die sind als Einkaufsgegend weitgehend unbekannt. Durch die Feste habe man es bereits geschafft, den Bekanntheitsgrad zu steigern. Nicht immer ist die Vereinsarbeit ein Vergnügen, denn nicht nur das traditionelle Weinfest, sondern auch das Rüdi Net-Sommerfest sorgt manchmal für Beschwerden wegen der Lautstärke. Der Großteil der Anwohner stehe jedoch hinter den Festen, so Hanisch.

Ein Symbol für die Beständigkeit des Rüdesheimer Platzes im sich ständig wandelnden Berlin ist die Schuhmacherei Gloger am Rüdesheimer Platz 1. Sie ist nicht nur die erste Adresse, sondern auch eine der ältesten: Es gibt sie seit 1914. Auf lauschigen 34 Quadratmetern stapeln sich in den Wandregalen Turnschuhe, Lederstiefel, Sandalen und Pantoffeln, die auf Abholung warten, hinter einer Abtrennung versteckt sind die zwei Arbeitsplätze, wo Vater und Sohn dem alten Schuhwerk neues Leben einhauchen. Auch Ledermäntel und Gürtel werden hier repariert. Fritz Gloger machte hier in den 1960ern seine Lehre, kaufte später das Geschäft. Sohn Marco, der seit fünf Jahren mit hinter dem Tresen steht, will den Laden einmal übernehmen – ein Standortwechsel käme nicht in Frage, meint er.

Der Platz sei zwar „kein Umschlagpunkt“, aber auf Spontanbesuche könne eine Schuhmacherei ohnehin kaum hoffen. Stattdessen kämen seit vielen Jahren Stammkunden zu ihnen ins Geschäft. Reparaturbetrieb statt Wegwerfgesellschaft: Damit fühlen sich die Glogers manchmal wie eine ausgestorbene Spezies. Gerade die jüngere Generation habe eine geringe Zahlbereitschaft, kaufe bei günstigen Ketten minderwertige Schuhe, deren Ausbesserung kaum lohne: „Es wird am falschen Ende gespart,“ meint Marco Gloger. „Außerdem sind die Schuhe am weitesten weg vom Kopf,“ fügt er lachend hinzu – man könne sie gut verstecken.

Werbung machen die Schuster kaum, lassen lieber die Tradition für sich sprechen: „Wir sind immer freundlich zu den Kunden und liefern gute Arbeit ab. Sie wissen, sie können jederzeit in das Geschäft kommen“, meint Fritz Gloger. Zudem kommt es dem kleinen Geschäft zugute, dass es keine direkte Konkurrenz hat: „Wir sind die einzigen in der Umgebung“. Anders sei es bei vielen traditionellen Einkaufsläden am Rüdesheimer Platz gewesen, die wegen der übermächtigen Konkurrenz der Supermärkte aufgeben mussten, bemerkt Fritz Gloger mit Bedauern. Vater und Sohn sind trotzdem zuversichtlich, dass sie sich auch in Zukunft auf ihre Stammkunden verlassen können.
Trotz hoher Mieten und großer Konkurrenz der nahe gelegenen Shoppingcenter, in einem scheinen sich alle hier am Platz einig zu sein. Rüdi Net-Gründer Wolfgang Hanisch fasst es zusammen: Der Rüdesheimer Platz, sagt er, sei mit allen Höhen und Tiefen „einer der schönsten Berlins“.

Mehr Themen über die Wirtschaft in der Hauptstadtregion lesen Sie ab sofort in der neuen Ausgabe von Berlin Maximal, dem Mittelstandsmagazin des Tagesspiegels. Es ist im Handel erhältlich.

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