Illegale Autorennen: Berliner Polizei greift immer härter gegen Raser durch
414 Verfahren in 16 Monaten: Polizei und Justiz kämpfen in Berlin konsequent gegen illegale Autorennen. Auch mit Hilfe der Daten aus den Fahrzeugen.
Der Tesla, der am Morgen des 4. September auf der Stadtautobahn bei erlaubten 80 Stundenkilometern mit 197 geblitzt wurde, ist einer der Gründe, weshalb Andreas Winkelmann sich nach 25 Berufsjahren so motiviert fühlt wie nie zuvor. Dem Polizisten am Blitzer war nämlich ein neben dem Tesla rasendes Motorrad aufgefallen. So wurde aus der maximal 1360 Euro teuren Ordnungswidrigkeit des Rasens die Straftat eines verbotenen Kraftfahrzeugrennens. Auf diesen – im Gefolge der tödlichen Raserei auf dem Ku'damm vom Bundestag beschlossenen – Tatbestand stehen bis zu zwei Jahre Gefängnis und die Einziehung des in diesem Fall rund 100.000 Euro teuren Autos.
Straftat statt Ordnungswidrigkeit
Als Rennen landete der Fall also nicht bei der Bußgeldstelle, sondern bei Andreas Winkelmann, der bei der Berliner Amtsanwaltschaft die Abteilung leitet, die für diese seit Oktober 2017 strafbaren Taten eingerichtet wurde. Per Gerichtsbeschluss wurde die Europazentrale von Tesla zur Herausgabe vielleicht gespeicherter Fahrzeugdaten aufgefordert.
Die Antwort übertraf Winkelmanns kühnste Erwartungen: Im Sekundentakt hatte der Sportwagen Position und Tempo an die Zentrale gefunkt. So ließ sich die ganze Tour auch ohne Zeugen rekonstruieren und ein Spitzentempo von 209 km/h ermitteln. Nicht auszudenken, wie dieses Duell auf der Stadtautobahn hätte enden können.
Der Prozess gegen den Tesla-Fahrer steht noch aus, aber Winkelmann ist optimistisch: Von bisher 414 Verfahren seien rund 40 mit rechtskräftigen Urteilen erledigt worden und 150 bereits angeklagt. Nur ganz wenige Fälle seien zur Ordnungswidrigkeit zurückgestuft worden. Und einer, bei dem Diebe auf der Flucht vor der Polizei eine Passantin totfuhren, wird vor dem Landgericht als Mord verhandelt.
Gute Zusammenarbeit bei der Aufklärung
Während Berlin sonst eher nicht dafür bekannt ist, Regeln besonders konsequent durchzusetzen, entwickeln sich die Dinge beim Raser-Paragraf eher andersherum. Die Polizei arbeite klasse, sagt Winkelmann. Wurden anfangs zwei Raser pro Wochenende gestellt, sind es seit Beginn dieses Jahres schon 60, also mehr als einer pro Tag.
Er will die Polizisten, die beim Einfangen der Täter mitunter Kopf und Kragen riskieren, nicht enttäuschen, wie es die chronisch überlastete Justiz sonst allzu oft tun muss: Die nach dem Zwangsstopp stets beschlagnahmten Tatfahrzeuge lässt er notfalls wochenlang verwahren, bis er alle verfügbaren Daten bekommen hat. Auch das zahlt sich aus, weil beispielsweise Vermieter ihre Autos viel schneller zurückbekommen, wenn sie bei der Aufklärung helfen.
Zwei Lamborghinis, die die Polizei auf der Landsberger Allee mit Tempo 111 und 131 messen, aber nicht stoppen konnte, konnten dem Vermieter rasch zurückgegeben werden, weil der nach einem früheren Vorfall Datenschreiber nachgerüstet hatte.
Auch Car2Go und Drive Now seien sehr kooperativ, berichtet Winkelmann. Bei einem Rennen mit Sharing-Autos droht den Tätern zwar nicht der Verlust ihres Autos, aber dafür kann die Strafe umso höher ausfallen, wenn die Daten aus dem Auto zeigen, dass schon vor der – oft zufälligen – Begegnung mit einer Polizeistreife gerast wurde.
Und selbst wenn das nicht gelingt, kann es den Tätern wehtun, wie der Fall jener fünf Porsches zeigt, deren wilde Fahrt durch Charlottenburg die Polizei nach einem Notruf von Passanten im August 2018 beendete. Da sich die Tatbeiträge der einzelnen Fahrer nicht sicher rekonstruieren ließen, wird man sich vor Gericht wohl auf 40 Tagessätze à 25 Euro einigen.
Klingt billiger als es ist: Die Fahrer, junge Familienväter mit überschaubarem Einkommen, hatten die Autos direkt bei Porsche gemietet – und konnten sie erst Wochen später zurückgeben, weil die Polizei sie zur Beweissicherung einkassiert hatte. 10.000 Euro Entschädigung verlangte der Vermieter – pro Auto.
Reihenweise Täter verurteilt
Die Porschefahrer sind ebenso untypische Täter wie der schon ältere Geschäftsmann mit dem Tesla. Die allermeisten von Winkelmanns Klienten sind männlich, jünger als 35 und haben ausländische Wurzeln. Die üblichen Urteile reichten von 60 Tagessätzen Geldstrafe plus mindestens ein Jahr Fahrerlaubnis-Entzug (danach muss der Führerschein neu beantragt werden) bis zu 22 Monaten und drei Jahren auf Bewährung. Bei mehreren Wiederholungstätern will Winkelmann in den anstehenden Verhandlungen wieder Haftstrafen beantragen.
Den Fall des BMW-Fahrers ohne Führerschein, der den verfolgenden Streifenwagen mit Tempo 130 auf der Straße des 17. Juni abzuschütteln versuchte und dem bei Grün querende Fußgänger wohl nur wegen des nahenden Martinshorns rechtzeitig entkamen, hat Winkelmann von der Staatsanwaltschaft auf Mord- oder Totschlagsverdacht prüfen lassen. Da die Kollegen keine Chance sahen, will er den vorbestraften Fahrer wenigstens für zwei Jahre hinter Gitter bringen.
Bei einem 25-Jährigen, der in einem gemieteten 400-PS-Audi nachts mit Tempo 180 durch die Gneisenaustraße gedonnert war, wurden in der Berufung aus 60 Tagessätzen 180. „Da habe ich mich richtig ins Zeug gelegt“, sagt Winkelmann mit leuchtenden Augen. „Schließlich definieren wir hier gerade den Ur-Meter.“
Wobei der Audi-Pilot gar keinen Kontrahenten hatte. Zur Straftat wurde sein Solo, weil er die höchstmögliche Geschwindigkeit erreichen wollte. Laut Zeugen geriet der Audi beim Einbiegen unter die Yorckbrücken ins Schlingern. Und wer schlingert, ist am Limit.
Wenn es kein Video gibt, sondern nur die Messung aus dem nachfolgenden Polizeiwagen, öffnet Winkelmann am Laptop Google Earth, misst die Radien der Kurven – und errechnet anhand einer Formel das für einen Durchschnittsfahrer machbare Höchsttempo. Mit dieser Methode ließe sich sogar ein Pizzafahrer verurteilen, der in der Grabbeallee eine Zivilstreife mit Tempo 85 überholte. „Mehr war an dieser Stelle nicht drin“, sagt Winkelmann. Auf seinem Laptop hat Winkelmann eine Präsentation mit Videos, Formeln und Hilfsmitteln, die er Kollegen in anderen Bundesländern vorführt und demnächst auch in den Polizeidirektionen zeigen will, damit die Beamten noch genauer erfahren, wie sie Rennen gerichtsfest dokumentieren. Damit, dass zwar reihenweise Täter verurteilt werden, aber bisher erst ein Auto rechtskräftig dauerhaft eingezogen wurde, kann Winkelmann angesichts der verhängten Strafen leben.
Moderne Autos sammeln wertvolle Daten
Dabei wirkt der Strafverfolger ebenso ehrgeizig wie umgänglich. Mehrfach erwähnt er, wie angenehm dieser oder jener Verteidiger sei oder dass man dem Mann, der mit seinem Mercedes (im Duell mit einem BMW) in der Seidelstraße mit Tempo 108 gegen einen Baum geknallt war, das gar nicht zugetraut hätte. Der Raser überlebte, weil eine Polizistin ihn schwer verletzt aus dem brennenden Auto rettete.
Und die 108 Stundenkilometer weiß Winkelmann, weil das Auto einen Datenrekorder an Bord hat wie fast alle Neuwagen seit 2013. Die speichern bei Auslösung von Airbags verschlüsselt die Fahrmanöver der letzten fünf Sekunden: Radrollgeschwindigkeit, Pedaldruck von Gas und Bremse.
Ein interessanter Bericht der zeigt, dass sich in Berlin langsam etwas zum Positiven ändert. Das Auto an sich entwickelt sich vom Prestige-Objekt und Statussysmbol zum voll überwachten Mobilitätsgefäß mit Datenflatrate zum Hersteller. Kann man gut oder schlecht finden, wird aber in Zukunft maßlose Raserei in den Städten vermindern.
schreibt NutzerIn Rotfahrer
Andere Speichergeräte zeichnen die Daten bei Unplausibilitäten, etwa stark unterschiedlichen Raddrehzahlen, auf. Bei einem BMW, der unter den Augen von Überwachungskameras durch den Tiergartentunnel jagt, beginnt diese Aufzeichnung mit einer Bordsteinberührung: Tempo 115, erlaubt sind 50. Das Auto knallt erst links und dann rechts gegen die Wand, der Kontrahent hilft dem leicht verletzten Fahrer aus dem Auto, beide fliehen.
Drei Sekunden später passiert ein Smart die Unfallstelle, die sich an der kurvigen Mündung zweier Tunnelröhren unter dem Hauptbahnhof befindet. Wäre die Smartfahrerin drei Sekunden früher dran gewesen, wäre sie womöglich tot wie das Opfer der Ku'damm-Raser. Ohne die gäbe es Winkelmanns Abteilung nicht.
Die Daten müssen mühsam und teuer von vereidigten Sachverständigen ausgelesen werden. Nur fünf könnten das bundesweit, zwei davon in Berlin, was Winkelmann „ein großes Glück“ nennt. Mehrfach lobt er den Experten Michael Heyde, der auch das Tempo der Ku'damm-Raser ermittelt hat. Inzwischen rücken die Autohersteller die Daten mehr oder weniger freiwillig heraus – VW mit all seinen Marken von Seat bis Lamborghini mehr, Mercedes weniger.
Fallzahlen könnten abnehmen
Der Abteilungsleiter ist jetzt 53, kann den Job also noch eine Weile machen. Allerdings geht er davon aus, dass die Fallzahlen abnehmen werden, wenn auch der Letzte mitbekommen hat, wie teuer Rennen werden können.
Und selbst jene, die entkamen wie der Motorradfahrer, der den Polizeiwagen an einem verpollerten Parkweg am Südkreuz abhängte, dürfen sich nicht sicher fühlen: Winkelmann will die Lederkombi und Helm des Halters auf DNA-Spuren untersuchen lassen. Sollte nur seine eigene daran haften, muss er auch gefahren sein. Andreas Winkelmann hat nicht vor, in seinem Kampf gegen die lebensgefährliche Raserei freiwillig eine Schlacht zu verlieren.
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