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Auf dem früheren Opernplatz, heute Bebelplatz, verbrannten Nazis am 10. Mai 1933 die Bücher zahlreicher Autoren.
© Doris Spiekermann-Klaas

Jahrestag der Bücherverbrennung: Berliner Nachbarn lesen wider das Vergessen

Eine Hausgemeinschaft in Charlottenburg erinnert gemeinsam an die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933. Mit dabei sind Künstler wie Schriftstellerin Tanja Dückers und Schauspielerin Eva Mattes.

Als der Galerist Alexander Ochs am Gedenktag der Befreiung von Auschwitz von einer Spanienreise heimkehrte, sah er, dass Nachbarn Blumen und Kerzen neben die elf Stolpersteine vor seinem Charlottenburger Wohnhaus gelegt hatten. „Das hat mich sehr berührt“, sagt er heute. Dieses Erlebnis gab den Anstoß für eine ganz besondere Aktion. Am 10. Mai, dem Tag der Bücherverbrennung im Jahr 1933, will er mit Nachbarn und Freunden aus Büchern und Texten von damals und heute verfolgten Autoren lesen. Damals warfen die Nazis unter anderem Werke von Bertolt Brecht, Albert Einstein, Erich Kästner, Egon Erwin Kisch, Heinrich Mann, Anna Seghers und Kurt Tucholsky in die Flammen.

Am 10. Mai wollen die Nachbarn in dem Haus Schillerstraße 12 bis 15 auch aus Werken heute verfolgter Autoren lesen, unter anderem Can Dündar, Salman Rushdie, Liu Xiaobo. Auch Passagen aus dem Tagebuch der Anne Frank und Auszüge aus der Rede von Norbert Lammert zum 80. Jahrestag der Bücherverbrennungen sollen zu Gehör gebracht werden.

Unter den Nachbarn in dem Komplex gibt es einen besonders guten Zusammenhalt. Sie feiern auch schon mal Weihnachten zusammen und pflegen überhaupt gute Kontakte zueinander. Einmal stand vor der Tür einer Schauspielerin, die in dem Haus lebt, die Komponistin Ursula Mamlok, die dort in den 30er Jahren gelebt hat und dann vor den Nazis über Ecuador nach New York geflohen ist. Daraus entstand eine Freundschaft, an der auch die Nachbarn Anteil nahmen. Seit 2006 bis zu ihrem Tod 2016 lebte die Komponistin wieder in Berlin.

Auch Buchhandlungen machen bei der Gedenkveranstaltung mit

Die Aktion findet in dem Haus von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang statt. Mitmachen wollen unter anderem auch Tanja Dückers und Eva Mattes, die jiddische Lieder vortragen wird. Ochs und die Mitinitiatorin, die Philosophin Shulamit Bruckstein Coruh, freuen sich, dass auch andere Berliner dem Beispiel der Hausgemeinschaft folgen und ihrerseits Lesungen veranstalten wollen. Unter anderem die Autorenbuchhandlung am Savignyplatz und der Wagenbach-Verlag haben sich angeschlossen.

Durch Bücher verbunden. Die Hausgemeinschaft Schillerstraße 12-15.
Durch Bücher verbunden. Die Hausgemeinschaft Schillerstraße 12-15.
© privat

„Wir sollten in der derzeitigen politischen Situation viel mehr miteinander reden“, ist Ochs überzeugt. Er kenne Leute, die seit 40 Jahren nicht zu Demonstrationen gegangen sind, es jetzt aber wieder tun. Schließlich zeige die aktuelle Entwicklung, dass Künstler und Intellektuelle eingesperrt werden, wo immer das Totalitäre an Boden gewinne. Das Spektrum reicht von rechten Christen über islamistische Hassprediger bis zum rechten Flügel der AfD. Insofern versteht er die Aktion auch als „Botschaft der Wachsamkeit“.

Jeder soll mitmachen

Die Hausgemeinschaft, der Künstler, Wissenschaftler aber auch Studenten angehören, freut sich über alle Ideen, die auch von anderen in diesem Zusammenhang umgesetzt werden. So wird aus diesem Anlass auch ein Bücherbaum aufgestellt, ein Schrank, in den man gelesene Bücher hineinlegen kann, damit sie sich andere dort herausnehmen können. Der Aufruf des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, Mut zu zeigen, wirkte ebenfalls inspirierend auf die 28 Bewohner des Hauses. Ihr Beschluss lautete: „Zeigen wir Mut! Lesen wir! Bekennen wir uns zu unserer Kultur!“ Und sie hoffen, dass ihre nachbarschaftliche Initiative Nachahmer findet.

Oft liegt der erste Impuls dafür vor der eigenen Haustür. Es gibt viele Stolpersteine im Stadtbild. Man müsste nur einfach Nachbarn oder Freunde aktivieren. Jeder bringt einen Stuhl mit. Bücher, die mal verboten waren oder es anderswo heute sind, finden sich ebenfalls in vielen Hausbibliotheken. Es muss ja nicht überall den ganzen Tag dauern. Für eine Geste reicht auch eine Stunde.

Elisabeth Binder

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