Angst vor Covid-19: Berliner Kliniken wollen tausende Operationen nachholen – Patienten zögern
Die erste Welle der Pandemie ist abgeebbt, Kliniken fahren den regulären Betrieb hoch. Doch Patienten bleiben zurückhaltend. Dabei gelten strenge Hygieneregeln.
Der Brief, der da Mitte März bei den Kliniken eintrudelte, dürfte bei so manchem Klinikmanager ein Stirnrunzeln verursacht haben. Der Absender war der Bundesgesundheitsminister. Und er forderte die Kliniken auf, alle planbaren Operationen, soweit medizinisch möglich, auf unbestimmte Zeit zu verschieben. So sollten Ressourcen freigemacht werden für den befürchtete Zulauf von Patienten mit schweren Covid-19-Verläufen.
Und auch so mancher Chefarzt dürfte gedacht haben: Wie geht es nun weiter? Vor allem diejenigen, die Abteilungen leiten, in denen der Anteil von elektiven Eingriffen – so nennt der Mediziner Operationen, die keine Notfälle sind, also geplant werden können – besonders hoch ist: Augenheilkunde, Orthopädie, Chirurgie, HNO, Urologie…
Die Berliner Kliniken kamen der Aufforderung nach, schließlich sahen sie ein, dass man auf das Schlimmste vorbereitet sein muss.
Und etwas finanziellen Ausgleich für die freigehaltenen Betten vom Staat gab es ja auch. Doch die Anzahl der Patienten, die man anrufen musste, um den OP-Termin abzusagen, ging schnell in die Tausende. Einige Beispiele: Allein die Charité führte im April und Mai 2020 nur rund die Hälfte der für zwei Monate üblichen 1500 Eingriffe durch. Im Dominikus-Krankenhaus sank in dieser Zeit die Zahl der monatlichen Eingriffe von 260 bis 300 auf 100 bis 120. Das Krankenhaus Waldfriede hat 450 Operationen verlegen müssen, das Immanuel-Krankenhaus 350 und das St. Joseph-Krankenhaus 250 bis 300.
Viele Abteilungen verloren weit mehr als 50 Prozent ihres normalen Auslastung. Bei einzelnen Eingriffen, wie Augenoperationen beim Grauen Star, Implantationen von künstlichen Knie- und Hüftgelenken oder Eingriffen am Magen in der Adipositaschirurgie betrug der Rückgang 90 Prozent und mehr.
Knie- und Hüftoperationen sind fast komplett ausgefallen
„In unserer Abteilung haben wir zwei der vier Stationen von einem Tag auf den anderen dicht gemacht“, sagt Ulrich Nöth, Chefarzt der Orthopädie und Unfallchirurgie am Ev. Waldkrankenhaus Spandau. Die Operationen zur Implantation eines künstlichen Knie- oder Hüftgelenks seien von Mitte März bis Ende Mai fast komplett ausgefallen – und das bei einer Abteilung, die jährlich rund 1000 Hüft- und 600 Knieprothesen einsetzt und die damit in Berlin die meisten dieser Operationen durchführt. „Allein das dürften so um die 250 Operationen in diesen zweieinhalb Monaten gewesen sein, die wir verschoben haben.“
Im Mai sei der Rückgang gegenüber dem Vorjahr besonders heftig gewesen: 60 Prozent weniger Eingriffe. „Wir haben jeden Patienten angerufen und sie auf eine Warteliste gesetzt“, erinnert sich Nöth. Auf große Begeisterung sei das selten gestoßen. „Die Patienten haben ja zum Teil starke Schmerzen, oft über eine lange Zeit.“ Zum Teil seien die Ärzte angefleht worden, trotzdem zu operieren und mussten das ablehnen.
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In der Augenheilkunde ein ähnliches Bild: Man habe einen Rückgang bis zu 70 bis 80 Prozent verkraften müssen, sagt Joachim Wachtlin, Chefarzt der Augenheilkunde am Sankt Gertrauden-Krankenhaus. „Die Auswahl zu treffen, welche Patienten eine Behandlung trotz Shutdowns bekommen und welche nicht, ist in der Augenheilkunde eine schwierige.“ Denn auch bei elektiven Eingriffen könnten durch eine Verschiebung gesundheitliche Probleme auftreten. „Glücklicherweise gab es seitens der Fachgesellschaften für Augenheilkunde eine gemeinsame Empfehlung, die sehr hilfreich war:“
Kinderwunschbehandlungen finden wieder statt
Anderes Beispiel: In der Gynäkologie des Vivantes Auguste Viktoria Krankenhauses (AVK) gab es knapp 30 Prozent weniger Eingriffe als im Vorjahreszeitraum. „Verschoben wurden teils die Operationen von gutartigen Tumoren oder Kinderwunschbehandlungen“, sagt Chefärztin Mandy Mangler.
Diesen „Behandlungsstau“ versuchen die Kliniken nun abzuarbeiten. Seit Juni fahren die meisten Krankenhäuser ihren Betrieb wieder hoch, wobei längst nicht alle einen großen Patientenansturm feststellen. Zwar laufe seine Abteilung wieder unter Volllast, um die Operationen nachzuholen, sagt Orthopädie-Chefarzt Nöth. Es gebe aber viele Patienten, die fürchteten, sich im Krankenhaus mit dem Coronavirus anstecken zu können.
„Es ist unsinnig, davor Angst zu haben, sich im Krankenhaus mit dem Coronavirus anzustecken, die meisten Kliniken sind nachgewiesenermaßen coronafrei“, sagt eine Chefärztin, die nicht namentlich zitiert werden möchte.
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„Nachgewiesenermaßen“ ist hier allerdings relativ. Zum einen liegen derzeit rund 120 Patienten mit einem schweren Verlauf von Covid-19 im Krankenhaus, die meisten davon allerdings in der Charité und überall streng isoliert. Zum anderen testen nicht alle Berliner Kliniken sämtliche neuaufgenommenen Patienten per Abstrich auf das Virus.
Covid-19-Patienten werden streng isoliert
Tatsächlich aber haben die Kliniken viel getan, um den Patienten die Angst zu nehmen. Nach wie vor gelten strenge Besuchsbeschränkungen und Hygienevorschriften. Für Mitarbeiter, Patienten und Gäste gilt eine Maskenpflicht und Mehrbettzimmer werden oft nur zur Hälfte belegt. Durch gezielte Einbestelltermine sollen Wartezeiten in engen Wartezimmern vermieden werden.
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Zudem behandeln Ärzte die Patienten mit möglichen Symptomen von Covid-19 in Isolierstationen getrennt von den anderen Patienten. Und schließlich: Auch das weitere Verschieben einer nötigen Behandlung kann gefährlich werden.
Manche Tumore konnten erst spät festgestellt werden
So warnten Kardiologen und Neurologen immer wieder, dass aus Angst vor dem Virus weniger Menschen mit dem Verdacht auf einen Herzinfarkt oder Schlaganfall in die Kliniken kämen und damit ihre Gesundheit und ihr Leben riskierten.
Und auch die Therapie von Krebskranken hat unter dem Shutdown gelitten. So hat Chefärztin Mangler festgestellt, dass nun viele Patienten in die Kliniken kämen, bei denen der Tumorverdacht erst in einem weiter fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert wurde, als es vor der Krise der Standard war.
Der Hintergrund: Viele Patientinnen haben während des Shutdowns selbst auf den Arztbesuch verzichtet oder konnten nicht in die Ambulanzen, weil diese geschlossen waren. Dadurch kam es auch in der Klinik für Gynäkologie des AVK zu einem „Behandlungsstau“, was zum Beispiel in Einzelfällen dazu führen konnte, dass Tumore weiter wachsen, statt entfernt zu werden.