Einzelfallprüfungen für Kreuzberger Flüchtlinge: Berliner Integrationsbeauftragte kritisiert Ausländerbehörde
Der Senat hat den Flüchtlingen Einzelfallüberprüfungen zugesagt. Was aber bedeutet das? Ein Gutachten fordert jetzt, dass die Ausländerbehörde die Verfahren an sich ziehen muss. Der Innensenator lehnt das ab.
Viele Flüchtlinge, die in der Gerhart-Hauptmann-Schule ausharren, misstrauen den Zusagen des Senats auf individuelle Prüfungen ihres Aufenthaltsstatus’ durch die Ausländerbehörde. Laut Rechtsanwältin Berenice Böhlo haben sie allen Grund dazu, skeptisch zu sein. Böhlo vertritt etliche Flüchtlinge, die bis April auf dem Oranienplatz campiert haben, bis sie das Zeltlager freiwillig räumten und in die Unterkünfte in Friedrichshain, Marienfelde oder Reinickendorf zogen. Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) hatte für den Senat eine Einigung mit den Flüchtlingen erzielt. Es werde massiv gegen die Vereinbarung zur Räumung des Oranienplatzes verstoßen, die Flüchtlinge erhielten – anders als versprochen – keine Einzelfallprüfung durch die Berliner Ausländerbehörde, sagt Böhlo nun. Das Amt lehne alle Anträge ab, dass Berlin ihre Verfahren übernehme, die vorher in anderen Bundesländern geführt wurden. Die Vereinbarung im Wortlaut ist allerdings vage: Die Rede ist nur von „einer umfassenden Überprüfung der Einzelfallverfahren“ – nicht aber davon, welches Land diese führt.
Laut der Anwältin gibt es aber keine individuellen, inhaltlichen Überprüfungen in Berlin. Immer wieder seien Flüchtlinge deswegen von Abschiebung bedroht. Zuletzt saß Anfang Juni einer ihrer Mandanten, ein Flüchtling aus Niger, in Abschiebehaft wegen eines Beschlusses aus Sachsen Anhalt, wo sein Verfahren ursprünglich geführt wurde. Böhlo konnte eine Abschiebung verhindern. Innensenator Frank Henkel (CDU) weist seit Monaten darauf hin, dass Berlin keine Verfahren aus anderen Bundesländern an sich zieht. Böhlo nennt diese Haltung „verantwortungslos“. Der Republikanische Anwaltsverein, ein Zusammenschluss linksliberaler Anwälte, spricht von einem Wortbruch. Und auch der Flüchtlingsrat Berlin wirft Henkel einen „unehrlichen Umgang“ vor.
Gutachten: Das Land Berlin hat Fakten geschaffen
Böhlo, der Republikanische Anwaltsverein sowie der Flüchtlingsrat sehen sich in ihrer Auffassung durch ein Gutachten gestärkt, das die Integrationsbeauftragte des Senats, Monika Lüke, in Auftrag gegeben hat. Die Autoren, der Völkerrechtler Andreas Fischer-Lescano von der Universität Bremen und ein Experte im europäischen Flüchtlingsrecht, Matthias Lehnert, kommen nämlich zu dem Schluss, dass die Zuständigkeit für die asylrechtlichen Verfahren schon längst bei den Berliner Behörden liegt. Das sei zum einen in der Tatsache begründet, dass die hiesige Ausländerbehörde über einen längeren Zeitraum nicht eingeschritten ist, obwohl die Flüchtlinge auf dem Oranienplatz sich wegen der geltenden Residenzpflicht in den Bundesländern, in denen ihre Verfahren ursprünglich geführt wurden, hätten aufhalten müssen. Ebenso ergibt sich aus dem Gutachten, dass das Land Berlin durch die Bereitstellung von Unterkünften und durch die Gewährung finanzieller Unterstützung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz entsprechende Fakten geschaffen hat. Zudem müssen laut Auffassung der Experten Abschiebungen für die Dauer der Verfahren ausgesetzt werden.
Die Integrationsbeauftragte Lüke teilt ausdrücklich die Auffassung des Gutachtens und sieht sich in dieser Frage auch mit Integrationssenatorin Kolat einig. Die Expertise nehme sehr detailliert Stellung zu der besonderen Situation der Flüchtlinge vom Oranienplatz, eine Privilegierung gegenüber anderen Asylsuchenden gebe es daher nicht. „So wie die Verfahren angelaufen sind, entspricht das nicht meiner Auffassung davon, wie die Vereinbarung vom Oranienplatz umgesetzt werden sollte“, sagt Lüke. Sie ist enttäuscht, dass die Innenverwaltung und die Ausländerbehörde die Rechtsauffassung nicht teilen und in der Folge restriktiv verfahren. Die grüne Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Monika Herrmann, fordert ebenfalls, Innensenator Henkel solle weniger restriktiv handeln.
Lüke hat das Gutachten in der vergangenen Woche an Henkel weitergeleitet. In der Innenverwaltung teilt man die Positionen nicht. „Die in dem Gutachten dargelegte Auffassung ist juristisch aus hiesiger Sicht nicht vertretbar und widerspricht in weiten Teilen der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg und des Bundesverwaltungsgerichts“, sagte ein Sprecher der Verwaltung. Daher sieht man keine Veranlassung, von der bisherigen Auffassung abzurücken. Zu schon getroffenen Entscheidungen äußert sich die Verwaltung nicht. Nach Lükes Angaben wird es jetzt darauf hinauslaufen, „dass Gerichte klären müssen, wie die Gesetze in Berlin umgesetzt werden“. Denn es sei sicher, dass Flüchtlinge gegen die Beschlüsse der Ausländerbehörde klagen werden.