Umstrittenes Urteil: Berliner Ärzte befürchten OP-Tourismus wegen Beschneidungen
Jedes Jahr werden schätzungsweise 1350 Jungen in Berlin aus religiösen Gründen beschnitten. Gegen das umstrittene Urteil aus Köln prüfen muslimische Verbände nun eine Verfassungsklage.
Das umstrittene Beschneidungsurteil ist nach Einschätzung des Präsidenten der Berliner Ärztekammer auch für alle niedergelassenen Praxisärzte verbindlich. „Religiös motivierte Beschneidungen haben nun zu unterbleiben, das Urteil ist eindeutig“, sagte Günther Jonitz. Rund 1200 muslimische und 150 jüdische Jungen wurden Schätzungen zufolge jedes Jahr in Berlin aus religiösen Gründen beschnitten. Viele wurden bislang in Praxen operiert, wo sie den Eingriff privat bezahlten. Schon vergangene Woche hatten Kliniken mitgeteilt, solche Eingriffe vorerst nicht mehr durchzuführen.
Das Landgericht Köln hatte erklärt, eine rituelle Beschneidung sei Körperverletzung, weil sie medizinisch unnötig und ein Kleinkind nicht einwilligungsfähig sei. Dessen Körper werde aber durch den in Islam und Judentum verbreiteten Eingriff „irreparabel verändert“. Das Urteil ist rechtskräftig.
„Ich befürchte, es könnte sich nun eine Schattenmedizin entwickeln, möglicherweise beschneiden etwa einzelne Heilpraktiker auf Wunsch von Eltern“, sagte Jonitz. Die Ärztekammer ist für Berufsrecht- und Ethikfragen zuständig, ihr müssen alle zugelassenen Mediziner angehören. Dass Ärzte den Eingriff weiter durchführen, um in einem anschließenden Rechtsstreit bis zum Bundesverfassungsgericht zu gehen, hält Jonitz für keine gute Idee. Es könne drei Jahre dauern, bis in Karlsruhe über das Kölner Urteil entschieden wird. Auch Chirurgenverbände sehen eher die Bundestagsabgeordneten in der Pflicht, gesetzlich festzulegen, ob rituelle Beschneidungen bei Kindern eine Körperverletzung sind oder nicht.
Bis dahin werden viele Familien wohl ausweichen. „Es sind Schulferien, viele türkische Berliner verbringen ohnehin in der Türkei ihren Sommerurlaub“, sagte Ilker Duyan von der Berliner Gesellschaft Türkischer Mediziner. „Das könnten nun schnell mehr werden.“ Ärzte, Juristen und Vertreter von Religionsgemeinschaften hatten schon vergangene Woche vor einem verstärkten OP-Tourismus gewarnt, wie in den Zeiten als Abtreibungen hierzulande verboten waren.
Innerhalb der Ärzteschaft gibt es allerdings erhebliche Zweifel, dass sich alle Kollegen an das Beschneidungsverbot halten werden. Zwei leitende Ärzte aus zwei großen Berliner Kliniken sagten am Mittwoch unabhängig voneinander: „Wo kein Kläger, da kein Richter.“ Man werde in Einzelfällen weiter Jungen beschneiden, womöglich würden rituelle Beschneidungen als medizinisch notwendige deklariert – etwa wegen Vorhautverengung. „Bei Kleinkindern ist ohnehin nicht eindeutig, ob die Vorhaut ein Problem wird.“
Am Mittwoch hat ein breites Bündnis muslimischer Verbände wegen negativer Folgen für die Integration eine gesetzliche Klarstellung gefordert. Eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht werde derzeit geprüft, erklärte der Koordinationsrat der Muslime in Deutschland. Mit seinem Urteil vergangene Woche hatte das Kölner Landgericht erstmals in Deutschland eine religiös motivierte Beschneidung als strafbar bewertet.
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