Insolvenz: Berlin wächst auch bei den Pleiten
Viele Berliner können ihre Rechnungen nicht zahlen – auch wegen hoher Mieten. Und die Neu-Berliner verschärfen die Not.
Steigende Mieten, doppelt so viel Geld für Butter sowie teures Obst und Gemüse, aber kaum steigende Einkommen. Die Berliner kämpfen verzweifelt gegen die steigenden Preise und die Rückkehr der Inflation. Und immer mehr Hauptstädter scheitern und gehen pleite. Unternehmern geht es ähnlich; immer mehr Firmen können ihre Rechnungen nicht mehr zahlen. Dabei wächst die Stadt weiter – es kommen aber vor allem Ausländer mit geringen Einkünften.
Wie das Amt für Statistik berichtet, haben 2283 Privatpersonen im ersten Halbjahr 2017 Insolvenz angemeldet, knapp drei Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Noch schlechter sind die Nachrichten von den Berliner Betrieben: 706 Unternehmen mussten schließen, elf Prozent mehr im Vergleich zum Vorjahr. Schlecht für Kunden und Lieferanten. Sie bangen um Rechnungen über knapp 350 Millionen Euro.
Mieten steigen in sozialen Brennpunkten
Den Kampf gegen die Schulden verlieren die meisten Berliner in den Bezirken Neukölln, Mitte, Reinickendorf und Marzahn-Hellersdorf. Das sind zugleich auch die Bezirke Berlins mit sozialen Brennpunkten, wo Haushalte mit geringeren Einkünften auskommen müssen, wo viele Migranten leben, die sich mit Sozialleistungen durchschlagen. Und trotzdem stiegen die Mieten in diesen Quartieren zuletzt stärker als im Durchschnitt. Der Mieterverein spricht gar von einer „Mieterhöhungswelle“ in diesem Jahr.
Das bestätigt die Bilanz der gestern veröffentlichten Böckler-Studie, wonach immer mehr Berliner die finanzielle Belastung der steigenden Wohnkosten nicht mehr tragen können. Von der Pleitewelle bleiben auch bürgerlich geprägte Bezirke nicht verschont. In Charlottenburg-Wilmersdorf ist zwar die absolute Zahl der neuen Pleitiers geringer, dafür sind deren Schulden in der Summe höher als in jedem anderen Berliner Bezirk.
Ramona Pop sieht Wirtschaft auf Erfolgskurs
Verwunderlich ist angesichts dieser Meldungen der Lobgesang von Wirtschaftssenatorin Ramona Pop auf die Berliner Wirtschaft. Die Grünen-Politikerin sieht die Firmen auf Erfolgskurs und meint, das Wachstum komme wegen des Aufbaus von fast 60 000 Jobs „bei den Menschen an“. Tatsächlich entstehen die meisten neuen Jobs im Einzelhandel, im Gastgewerbe und in IT-Dienstleistungen, sind also zumeist schlecht bezahlt. Die Industrie, wo qualifizierte Stellen entstehen, schrumpfte zuletzt.
Zum Bild der wachsenden Hauptstadt des Prekariats passt die ebenfalls am Donnerstag veröffentlichte korrigierte Bevölkerungszahl von Berlin. Demnach lebten am Ende des ersten Quartals des vergangenen Jahres 3 540 100 Menschen in der Stadt, 0,6 Prozent mehr als Ende 2015. Doch das Wachstum der Bevölkerung ist ausschließlich dem Zuzug von Ausländern zu verdanken: 26 300 mehr zogen nach Berlin als fort aus der Stadt. Leicht geschrumpft ist dagegen die Zahl der deutschen Berliner, um 300. Der Geburtenüberschuss ist ausschließlich ausländischen Berlinern zu verdanken: Unter ihnen kamen 1200 mehr Menschen zur Welt, als im gleichen Zeitraum starben. Es leben also mehr Menschen mit Migrationshintergrund in der Stadt als bisher. Fast jeder sechste Berliner stammt inzwischen aus dem Ausland.
Weil „Schutzsuchende“, wie das Amt mitteilt, sowie Zuzügler aus wirtschaftlich schwächeren Ländern in Ost- und Südeuropa das Berliner Bevölkerungswachstum befeuern, wächst mit ihnen auch der Mangel an preiswerten Mietwohnungen. Davon profitieren allenfalls Hausbesitzer sowie Dienstleister aus den Sozialbranchen und Betriebe, die dringend Auszubildende suchen.
Ralf Schönball