Gastbeitrag von IBB-Chef Jürgen Allerkamp: „Berlin trifft es härter und länger“
Das Coronavirus wird die Wirtschaft in Berlin härter treffen als andernorts. Doch sie dürfte sich gut erholen. Ein Gastbeitrag vom Chef der Förderbank IBB.
Die letzte große Wirtschaftskrise fand 2008 im Bankensektor statt. Diese überstand Berlin wesentlich besser als andere Regionen Deutschlands, weil der Anteil der Finanzbranche, ebenso wie der der Industrie in Berlin, im Verhältnis zu dem im übrigen Deutschland untergewichtet ist. Nach der Bankenkrise kannte die konjunkturelle Entwicklung in Berlin nur eine Richtung – steil nach oben. Mit Wachstumsraten deutlich über dem Bundesschnitt, Rekordzuwächsen bei den Beschäftigten und einer Start-up Szene mit einer rasant wachsenden Digitalwirtschaft, entwickelte sich in Berlin das viel beachtete Wirtschaftswunder an der Spree.
Warum lief es in Berlin jahrelang so gut?
Die Berliner Wirtschaft ist geprägt von vielen Kleinstunternehmen und Selbstständigen, vor allem im kreativen und künstlerischen Bereich. Rund 193.000 Soloselbstständige und 167.000 Unternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten sorgen für die einzigartig kreative Berliner Mischung. Auf der anderen Seite besitzt die Berliner Wirtschaft einen vergleichsweise geringen Industrieanteil von zuletzt 7,8 Prozent an der gesamten Bruttowertschöpfung. In Deutschland insgesamt sind es immerhin knapp 22 Prozent. Allerdings sind die in Berlin verbliebenen Industriebetriebe international sehr gut vernetzt und äußerst exportstark. Unaufhaltsam war dagegen der Aufstieg der Digitalwirtschaft, wo in den letzten zehn Jahren knapp 60.000 Arbeitsplätze entstanden sind.
Warum trifft es Berlin jetzt besonders hart?
In dieser Coronakrise fehlt nicht nur der medizinische Impfstoff gegen das Virus, auch die bisher gegen viele Krisen recht immune Berliner Wirtschaft zeigt sich nicht so resistent wie 2008. Das ist nicht verwunderlich, ist die kleinteilige Berliner Wirtschaft doch durch Branchen wie den Tourismus, die Gastronomie, Hotellerie, Messen, Kulturbetriebe sowie unternehmensnahe Dienstleistungen geprägt. Vor allem das Gastgewerbe und der Bereich Kunst und Unterhaltung haben in Berlin mit 2,5 Prozent beziehungsweise 6,2 Prozent einen überdurchschnittlich hohen Anteil an der gesamten Wirtschaftsleistung (Deutschland: 1,6 Prozent und 3,8 Prozent). Hier können ausgefallene Reisen, Übernachtungen, Events und Verzehr nicht nachgeholt werden.
Im verarbeitenden Gewerbe kann das möglicherweise teilweise kompensiert werden, da im Schichtbetrieb die Kapazitäten erhöht werden können und mancher Auftrag nachgeholt werden kann. Da diese Krise aber keine sektorale, sondern eine allumfassende ist, werden alle Branchen verlieren. Damit muss sich die Berliner Wirtschaft 2020 auf einen harten Einschnitt gefasst machen. Die tatsächlichen Auswirkungen sind nur grob einschätzbar, weshalb wir in Szenarien entlang der besonders stark betroffenen Branchen denken.
Welche Szenarien stehen Berlin bevor?
Der V-Verlauf – rasche Erholung: Auch, wenn die Krise in Berlin medizinisch in einigen Wochen überwunden sein sollte, oder zumindest Ausgangssperren in Teilen aufgehoben werden, muss davon ausgegangen werden, dass der Großteil der Dienstleistungsumsätze unwiederbringlich verloren sein wird.
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Dennoch könnte sich nach einigen Wochen ein rascher Wiederanstieg der wirtschaftlichen Tätigkeit einstellen. Unternehmensnahe Dienstleister könnten von der Wiederaufnahme und Nachholeffekten in der Produktion in der deutschen Industrie profitieren, der Handel von vielen Berliner Kunden , die wieder das eigene Heim verlassen dürfen. Aufgeschobene Käufe und Investitionen würden nachgeholt, die Produktion liefe wieder an – vorausgesetzt die Lieferketten sind nicht unterbrochen.
In diesem Fall läge das V-Szenario vor: schnell hinein in die Krise und rasch wieder heraus. Branchen mit hoher wirtschaftlicher Belastung wären vor allem das Gastgewerbe, mit einem Rückgang des Bruttoinlandsproduktes um 20 Prozent gegenüber 2019, Kunst, Unterhaltung und Erholung (ebenfalls minus 20 Prozent) sowie die freiberuflichen- und unternehmensnahen Dienstleistungen (minus fünf Prozent). In diesem Szenario kann 2020 auf der Basis der besonders negativ betroffenen Wirtschaftsbereiche mit einem Rückgang der Bruttowertschöpfung um rund 5,8 Milliarden Euro beziehungsweise einem BIP-Rückgang von etwa fünf Prozent gerechnet werden.
Ein stotternder Anlauf – der U-Verlauf
Bei einem negativeren Szenario könnte das Wiederanlaufen der Wirtschaft weitaus stockender verlaufen, da vor allem tourismusnahe Branchen aufgrund von unterschiedlichen zeitlichen und regionalen Taktungen ihre Aktivitäten nicht friktionslos aufnehmen können. Der Krisenverlauf entspräche dann eher einer U-Form und würde zu einem stärkeren wirtschaftlichen Einschnitt führen.
So würde der Berliner Tourismus, selbst nach einer medizinischen Normalisierung, unter ausbleibenden ausländischen Touristen leiden. Denn aufgrund des zeitverzögerten Ablaufs der Pandemie – China begann die Ausgangssperren zu lockern, als die Pandemie in den USA gerade angekommen war – dürften weltweit Reisebeschränkungen noch eine lange Zeit aufrechterhalten bleiben. Zudem wird vielen Menschen in den Krisenregionen häufig das Geld zum Reisen fehlen. Daher sollten wir insbesondere den innerdeutschen Tourismus intensiv bewerben.
Viele Meetings könnten auch nach Aufhebung der umfassenden Kontaktsperren weiterhin digital abgehalten werden und in den Restaurants und Unterhaltungsbetrieben bliebe eine lange Zeit jeder zweite Sitzplatz frei. Das Gastgewerbe könnte in diesem Szenario bis zu 40 Prozent der Bruttowertschöpfung von 2019 verlieren.
Dem starken Pharmasektor könnten die Vorprodukte ausgehen
Stabilisierend auf den Krisenverlauf sollte sich eigentlich der in Berlin gut ausgebaute Pharmasektor auswirken. Allerdings könnten mit zunehmender Dauer der Krise in der gesamten Industrie dringend benötigte Vorprodukte fehlen, um die Produktion ansatzlos zu starten (Industrie: minus sechs Prozent). Der Gesundheitsbereich wird zwar aufgrund der Krise keinen Mangel an Patienten erleiden, allerdings wurden in den Kliniken nicht dringende, aber hoch vergütete Operationen aufgeschoben.
Zudem beklagen kleinere Arztpraxen und Zahnärzte bereits einen starken Rückgang von Patienten oder mussten aus Mangel von Schutzkleidung den Betrieb reduzieren (Gesundheitswesen: minus fünf Prozent). In Folge der Krise halten viele Unternehmen Investitionen zurück und sparen nicht notwendige Dienstleistungen ein. Das träfe vor allem die unternehmensnahen Dienstleistungen (minus zehn Prozent) sowie die freiberuflichen und wissenschaftlichen Dienstleistungen (minus zehn Prozent).
Die inzwischen sehr breit aufgestellte Digitalwirtschaft sollte eigentlich per Definition auf eine Krise dieser Art besonders gut vorbereitet sein. Allerdings handelt es sich oft um junge Start-ups, die nicht über viel Eigenkapital verfügen und in der Krise häufig nicht lange durchhalten können. Internationale Risikokapitalinvestoren könnten ihr Engagement zurückfahren, da deren Risikoappetit bis auf weiteres gehemmt ist.
Dies dürfte die junge und dynamische Gründerszene in Berlin empfindlich treffen. In einem solchen Szenario könnten über alle Branchen gerechnet knapp zwölf Milliarden Euro weniger Bruttowertschöpfung als in 2019 erwirtschaftet werden. Gesamtwirtschaftlich entspräche das einem BIP-Rückgang von rund zehn Prozent.
Wie kommt Berlin aus der Krise?
Der Tourismus hat als erster die Krise gespürt und wird sie vielleicht erst als letzter verlassen. Darauf sollten wir uns einstellen. Das ist insbesondere für die betroffenen Hoteliers und Gastronomen, aber auch für die offene Weltstadt Berlin bitter. Denn diese Vielfalt, insbesondere privat geführter Hotels, Restaurants und Kneipen macht mit den kleinen Buchhandlungen, Geschäften und Boutiquen das besondere Flair aus. Diese Unternehmen müssen wir besonders im Blick haben. Hoffen wir, dass sich die „Corona-Reproduktionsrate“ trotz der leichten Lockerungen weiter ermäßigt. Dann bestünde zumindest eine Chance, auch in Restaurants und Hotellerie in moderaten Schritten wieder Geschäft zuzulassen.
Die übrigen Unternehmen in Gewerbe, Dienstleistung und Handel können nach der Krise ihre Arbeit wieder aufnehmen und dabei dank Kurzarbeitergeld auf ihre Fachkräfte zurückgreifen. Die Rückpralleffekte, also die Wachstumsraten vom Krisenniveau heraus, sollten in Berlin dann bedeutend höher sein. Hier setze ich neben breiter staatlicher Unterstützung auf den Kampfgeist der Unternehmerinnen und Unternehmer in unserer Stadt. Ich sehe Willen und Durchhaltevermögen, diese Krise zu meistern. Das stimmt mich optimistisch, dass wir nach einem katastrophalen Jahr der Krise hoffentlich in ein besseres Jahr 2021 gehen.
Jürgen Allerkamp
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