Erste Warnung der Corona-Ampeln: Berlin schaltet auf Rot-Grün-Grün
Eine der drei Corona-Ampeln in Berlin springt am Montag auf Rot um. Was bedeutet das? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Eine der drei Ampeln, mit denen Berlin das Infektionsgeschehen in der Stadt misst, ist am Montag auf Rot gesprungen. Die Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) informierte die Öffentlichkeit daraufhin über die Lage in der Hauptstadt, denn was bedeutet das jetzt für die Berliner? Darüber wird auch im Senat an diesem Dienstag debattiert.
Welche Faktoren stehen hinter den drei Berliner Ampeln?
In Berlin wird die Infektionslage mithilfe dreier sogenannter Corona-Ampeln bewertet. Eine der Ampeln gibt die Entwicklung bei Reproduktionszahl (R) wieder; eine zweite betrachtet die aktuelle Zahl der Neuinfektionen und die dritte zeigt an, wie viele Intensivbetten mit Covid-19-Patienten belegt sind.
Wenn zwei der drei Ampeln „Gelb“ zeigen, bestehe „Erörterungsbedarf“ – und die „Vorbereitung möglicher Maßnahmen“ sei erforderlich, erklärt die Landesregierung. Gibt es zwei Mal Rot, müsse eingegriffen werden, was dann wohl heißt, dass Lockerungen erst später kommen – oder vorerst komplett abgesagt werden.
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Auf Rot steht aktuell die Ampel für die Reproduktionsrate: Der häufig diskutierte R-Wert hat an drei Tagen die Marke von 1,2 überschritten. Der Wert besagt, wie viele andere Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Am Montag lag der Wert rechnerisch bei 1,37. „Das kann tatsächlich ein Indiz dafür sein, ob es einen Trendwechsel gibt“, sagte Dilek Kalayci (SPD) Abgeordnetenhaus. „Wir müssen jetzt gucken, ob diese Überschreitung der roten Linie beständig bleibt.“
Die beiden anderen Ampeln – also das Signal für Neuinfektionen und Intensivbetten-Lage – seien aber deutlich vom Sprung auf Gelb oder Rot entfernt (siehe Grafik). Bei den Neuansteckungen (je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen) wird die Ampel bei 20 Fällen auf Gelb, bei 30 auf Rot geschaltet. Und sind bei den Intensivbetten 15 Prozent mit Covid-19-Patienten belegt, springt die dritte Ampel von Grün auf Gelb, bei 25 Prozent auf Rot. Derzeit sind 4,7 Prozent belegt. Der Senat legt mit diesem System strengere Maßstäbe an, als Bund und Länder verabredet hatten.
Warum hat sich Berlin für ein Ampelsystem entschieden?
Die anderen Bundesländer hatten sich in Absprache mit Angela Merkels Experten auf eine simplere Obergrenze bei den Infektionszahlen verständigt. Danach sollten Landkreise oder kreisfreie Städte ein konsequentes Beschränkungskonzept umsetzen, wenn mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen gezählt werden. Für eine Großstadt wie Berlin sei das aus Sicht des Senats aber „nicht praktikabel“, hatte es vor zwei Wochen geheißen. Denn dies würde in Berlin zirka 1800 Fälle pro Woche bedeuten – zum Höhepunkt der Ansteckungen in der Stadt waren es gerade 1200 Infektionen.
Das Berliner Ampelsystem soll, so ist der Plan, sensibler auf die Lage reagieren. Senatorin Kalayci hatte sich in den Beratungen zur „Berliner Ampel“ als Hardlinerin zu zeigen versucht, auch Koalitionspartner und Ärzte hatten der SPD-Politikerin widersprochen. Ärztekammerpräsident Günther Jonitz sagte damals, es gebe kein Standardverfahren im Umgang mit einer Corona-Pandemie – schließlich handele es sich für alle Beteiligten um ein weitgehend neue Lage, die Ampel sei vorerst angemessen.
Der R-Wert steigt in Berlin, doch die Zahl der aktiven Fälle sinkt – wie passt das zusammen?
Die Zahl der aktiven Fälle ist ein tagesaktueller Wert, der beschreibt, wie viele Menschen aktuell krank sind. Die Reproduktionszahl R oder der R-Wert, auch der neue, sogenannte „geglättete“ R-Wert, schätzt dagegen die Entwicklung der Neuinfektionen. Der aktuelle R-Wert – so wie ihn das Robert-Koch-Institut berechnet – stellt dabei immer das Infektionsgeschehen von vor etwa ein bis zwei Wochen dar. Er sagt aus, wie viele Personen in dem Zeitraum von vor etwa einer bis zwei Wochen im Mittel von einer Person angesteckt wurden. Liegt R über 1, bedeutet das, dass die Zahl der Neuinfektionen stärker ansteigt. Bei R gleich 1 bleibt die Zahl an Neuinfektionen stabil. Bei R unter 1 sinkt die Zahl der Neuinfektionen. Der Wert kann, wenn die Datengrundlage gut ist, darüber Auskunft geben, wie sich die Epidemie entwickelt. Er gibt also Hinweise darauf, ob und in welchem Maße in naher Zukunft mit steigenden, mit stabilen oder sinkenden Fallzahlen zu rechnen ist, worauf sich also das Gesundheitssystem einstellen muss.
Der R-Wert muss dabei immer im Zusammenhang mit anderen Werten betrachtet werden, zum Beispiel der absoluten Zahl der täglichen Neuinfektionen und der Schwere der Erkrankungen. Demgegenüber bildet die Zahl der aktiven Fälle schlicht ab, womit es das Gesundheitssystem gegenwärtig zu tun hat. Es gibt verschiedene Methoden, die Reproduktionszahl R zu schätzen. Wenn die Fallzahlen insgesamt eher gering sind, kann der Wert – wie eigentlich immer bei statistischen Verfahren – stärker schwanken.
So könnten etwa „einzelne Ausbruchsgeschehen stärker zu Buche schlagen“, so eine Sprecherin des Robert-Koch-Instituts. Wenn es zum Beispiel bei insgesamt niedrigen Fallzahlen in einer Stadt einen Ausbruch in einem Pflegeheim gibt, kann die Reproduktionszahl schnell über 1 klettern.
„Dauerhaft über 1“ liegende R-Werte und weiter sinkende Fallzahlen „passt aber nicht“, so die RKI-Sprecherin weiter. Die derzeitige Situation mit leicht sinkenden Zahlen aktiver Fälle in Berlin, aber einem über Tage deutlich über 1 liegenden R-Wert kann also unter anderem deshalb zustande gekommen sein, weil R ein relativer Wert ist und bei eher kleinen Gesamtzahlen schon kleine Anstiege der absoluten Zahl von Neuinfektionen diesen Wert dann deutlich nach oben drücken. Wenn das R deutlich über 1 verweilen sollte, wird aber in allernächster Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Zahl der aktiven Fälle wieder steigen.
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Genau das ist ja auch der Sinn der Berechnung von R: eine Prognose für die zukünftige Entwicklung der Fallzahlen zu liefern. Bei der Interpretation der aktuellen Corona-Lage für Berlin komme es zudem „nicht auf Betrachtung eines einzelnen Wertes an, sondern auf die Zusammenschau der drei Indikatoren der Corona-Ampel“, sagte ein Sprecher der Senatsverwaltung für Gesundheit.
Wie will der Senat das Infektionsgeschehen senken?
Von weiteren Lockerungen hält Senatorin Kalayci wenig. Den Weg der Thüringer Landesregierung unter Bodo Ramelow (Linke) sehe sie kritisch: „Ich kann nur sagen: Vorsicht, die Pandemie ist noch nicht vorbei.“ Ramelow will auf landesweite Beschränkungsregeln verzichten. An diesem Dienstag werden die rot-rot-grünen Senatoren über Hygienemaßgaben, Lockerungen und den Effekt der Ampel beraten.
Kalayci hält drei Punkte für „indiskutabel“, diese sollen also beibehalten werden: die bekannte Abstandsregel von 1,5 Metern; die Maskenpflicht und die Kontaktbeschränkungen, also die formale Anordnung, dass sich nur Personen aus zwei Haushalten treffen dürfen. Sollte es dennoch massenhafte Neuansteckungen geben, müssten vor allem die Gesundheitsämter der Bezirke, betroffene Unternehmen, die Kitas, Schulen und Heime reagieren können.
Gibt es viele Infektionsherde zugleich, wird es mit der Verfolgung der Kontakte der Betroffenen (durch den Stab der bezirklichen Amtsärzte) schwierig, weil dazu das Personal kaum reicht. Für den Fall, dass Betroffene so schwer an Covid-19 erkranken, dass sie stationär behandelt werden müssen, ist Berlin jedoch gut vorbereitet. In der Stadt sind fast 30.000 Ärzte gemeldet, von denen die meisten aktiv im Dienst sind, viele der anderen im Ernstfall aber helfen würden.
Berlin verfügt zudem über 20.000 Krankenhausbetten, von denen 8000 derzeit nicht belegt sind. Dringend gesucht werden Pflegekräfte, nicht nur für die Covid-19-Notklinik an der Messe. Dieses Reservezentrum mit 500 weiteren Betten steht komplett leer.
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) hatte dem Tagesspiegel gesagt: „Andere Städte hätten auch gerne eine solche Reserve. Bis nächstes Jahr wird die Notklinik auch vorgehalten. Eine zweite, heftigere Infektionswelle kann niemand ausschließen.“ Derzeit wollen die Kliniken wieder mehr planbare, auskömmlich vergütete Operationen durchführen. Auch die Praxen kehren ein wenig zu den Präpandemie-Abläufen zurück. So würden die Öffnungszeiten der drei Coronavirus-Abklärungsstellen ab dem 25. Mai reduziert, teilte die für alle Praxen zuständige Kassenärztliche Vereinigung (KV) mit.
Für immobile Patienten mit schweren Erkältungssymptomen stehe nach wie vor der Fahrdienst der KV zur Verfügung, der gegebenenfalls einen Test auf Covid-19 durchführen kann. „Wir werden unsere Angebote der Entwicklung anpassen. Sollte sich die Lage verändern, können wir die Versorgungsangebote zeitnah wieder hochfahren“, teilte der Vorstand der KV mit.
Gibt es in Berlin sogenannte Hotspots und wie sieht es in den Bezirken aus?
Nein, auch wenn die Bezirke zeitweilig verschieden stark betroffen sind. Es gebe in Berlin keine erkennbaren Corona-Hotspots, also bestimmte Orte, von denen aus sich das Virus massiv verteilt, sagte auch Senatorin Kalayci am Montag. „Wir haben diese Hotspots zurzeit nicht“, sagte die Senatorin. Das sei eine gute Nachricht.
Sie gestand zugleich ein, dass die Dokumentation der Infektionsketten nicht immer möglich sei. Wer sich im öffentlichen Nahverkehr anstecke, könne das nicht zurückverfolgen. „Das Infektionsrisiko besteht in allen Bereichen. Je mehr wir lockern, umso mehr verbreiten sich die Infektionen“, sagte Kalayci.
Das Virus habe sich mittlerweile „so breit verteilt“, dass man für zukünftige Ausbrüche nicht unbedingt bestimmte Orte ausmachen können werde. Wie berichtet hatte sich das Coronavirus in der vergangene Woche in einem Berliner Flüchtlingsheim verbreitet. Die Lage in diesen Unterkünften sei aber ruhig, sagte Kalayci, die Heime würden wie die Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen „engmaschig“ überwacht.