Drittes Klima-Rekordjahr in Folge: Berlin ist schon über das Zwei-Grad-Ziel hinaus
Die Jahre 2018 bis 2020 waren in Berlin die drei wärmsten seit Messbeginn vor mehr als 100 Jahren. Fehlender Regen verschärft die Folgen noch.
Während Wissenschaft und Politik in aller Welt diskutieren, ob zwei Grad globale Erwärmung noch beherrschbar sind oder man den Anstieg doch lieber noch irgendwie auf 1,5 Grad begrenzen sollte, ist Berlin schon weiter: Die Mitteltemperatur aller Jahre seit 1908, als die Dahlemer Wetterstation in Betrieb ging, liegt bei 8,8 Grad. Die wärmsten drei dieser 113 Jahre sind: 2018, 2020 und 2019.
„Der erste Platz für 2018 mit seinem Temperaturmittel von 11,2 Grad ist sicher“, sagt Jörg Riemann. Der meteorologische Leiter des Dienstes „Wettermanufaktur“ in Tempelhof hat die Daten für den Tagesspiegel ausgewertet. „Der Unterschied zwischen den anderen beiden Jahren ist minimal; sie liegen beide bei 11,1 Grad.
Aber bei Betrachtung weiterer Nachkommastellen sieht es nach einer zweifelhaften Silbermedaille für 2020 aus“, sagt Riemann. Mit gut 11,1 Grad war es in den vergangenen beiden Jahren also jeweils 2,3 Grad wärmer als in der langjährigen Aufzeichnung.
Auch das in Wetterberichten üblichere „langjährige Mittel“, das sich aktuell auf die Periode von 1961 bis 1990 bezieht, verringert die Differenz nur um ein Zehntel Grad. Die Abweichung ist so groß, als wäre Berlin auf dem Globus tausend Kilometer südwärts gerutscht – dorthin, wo beispielsweise Zagreb liegt. Der Befund für Potsdam, wo sogar schon seit 1893 am selben Ort gemessen wird, fällt ähnlich aus – mit dem marginalen Unterschied, dass dort das Jahr 2019 etwas wärmer war als 2018.
1940 waren es im Mittel 6 Grad
Zwar ergeben drei Jahre noch kein komplettes Bild vom Klima, aber sie sind doch deutlich zu lang, um sich als zufällige Folge von Wetterkapriolen abtun zu lassen. Zumal auch das viertwärmste Jahr erst 2014 war. Wie groß die mögliche Spanne ist, zeigt ein Blick ans andere Ende: 1940 waren es im Mittel nur sechs Grad. Das lag laut Riemann vor allem am extrem kalten Winter.
In diesem Jahr war ausgerechnet der Mai als einziger Monat kälter als im Mittel – zwar nur ein Grad, aber mit einer frostigen Eisheiligen-Nacht in der Monatsmitte, die viele Obstblüten dahingerafft hat. Ansonsten wurde das spektakuläre Temperaturergebnis auf unspektakuläre Weise erreicht: Die meisten Monate waren zwei, drei Grad wärmer als normal, der August vier, der Februar fünf.
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Das ging einher mit einem viel zu trockenen Frühling und einem kaum besseren Sommer. Insgesamt kamen 2020 nur 477 Liter Niederschlag pro Quadratmeter vom Himmel. „Es fehlen also wieder 120 Liter“, sagt Riemann. Mit dem Defizit der beiden Vorjahre summiert sich der Mangel auf fast 450 Liter pro Quadratmeter – ein Drama für die Natur und langfristig ein Problem für die Wasserversorgung.
„Wir konnten noch von der Substanz des sehr verregneten Jahres 2017 zehren“, sagt Riemann, „aber zur Gesamtbetrachtung gehört auch die Verdunstung. Und die nimmt bei Erwärmung überproportional zu. Selbst wenn also der Niederschlag konstant bliebe, würde das Land wegen der steigenden Temperaturen immer weiter austrocknen.“
Flüsse sind so leer wie selten
Dass das Soll an Sonnenschein – 1672 Stunden sind es im Jahresmittel seit Aufzeichnungsbeginn, 2070 werden es wohl in diesem Jahr bis Silvester – wieder deutlich übertroffen wurde, ist also nur bedingt ein Grund zur Freude. Die Flüsse und Speicher sind leer wie selten, die Trockenheit des Bodens in 1,8 Meter Tiefe laut dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung unverändert extrem. Der Klimanotstand, über dessen Ausrufung und Bezeichnung auch in Berlin viel debattiert wurde, ist längst eingetreten.
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Schwerer als die Veränderung selbst sind ihre Ursachen zu ergründen. Auffällig ist das weitgehende Verschwinden der einst normalen Nordwestlagen, bei denen ein Tief nach dem anderen von Island über Skandinavien bis zum Baltikum rauschte und dabei längeren, nicht allzu heftigen Regen brachte, der im Winter auch oft in nassen Schnee überging.
Statt wie einst oft aus Nordwesten weht der Wind seit Jahren oft aus Süden oder Südwesten, kommt also grob vom Mittelmeer. Feucht ist diese Luftmasse ebenfalls, aber ihre Nässe kondensiert schon an den Alpen oder spätestens am Thüringer und Böhmerwald, sodass in Berlin und Brandenburg kaum Regen ankommt. Hinzu kommt das Phänomen, dass die Wetterlagen immer langlebiger werden.
Ob das extreme Wetter der vergangenen Jahre die neue Normalität wird, vermag Riemann nicht zu sagen. „Ich bin schon beruhigt, dass es aktuell so nasskalt ist. Nicht weil es so schön wäre, sondern weil das für die Jahreszeit hier üblich ist.“ Und Schnee könne im Januar durchaus noch kommen.