Aus Vietnam verschleppte Kinder: Berlin ist eine Drehscheibe für den Menschenhandel
Ermittler sehen Berlin als Transitstation für verschleppte Minderjährige, die zur Arbeit gezwungen werden. Im Visier: das Dong Xuan Center in Lichtenberg.
Für international aufgestellte Menschenhändler ist Berlin eine wichtige Transitstadt, um Vietnamesen nach Westeuropa zu schleusen. So steht es in einer langen Erklärung der Polizei zu einem Bericht des RBB über vermisste minderjährige Vietnamesen, Schleuserbanden und Zwangsarbeit etwa in Nagelstudios.
Das „Einschleusen vietnamesischer Staatsbürger über Osteuropa ist ein bekanntes Phänomen“, teilte die Polizei nun mit. Denn es liegen Erkenntnisse vor, „dass Kinder und Jugendliche von organisierten (Schlepper-)Organisationen in die Bundesrepublik Deutschland gebracht werden“. Die Schlepper fordern 10.000 bis 15.000 Euro pro Person, die Kosten müssen die Betroffenen „dann durch Arbeit“ oder „das Begehen von Straftaten“ abarbeiten – auch in Berlin.
Schleusung, Menschenhandel, Zwangsarbeit – es handelt sich um gravierende Straftaten. Die Hintermänner sollen in Moskau und Hanoi sitzen. Das Dong Xuan Center in Lichtenberg ist eine Zwischenstation der Schlepper. Wobei die Polizei nun die Bedeutung des als Klein-Hanoi bekannten Marktes für die Schlepper offiziell weniger betonen will.
Dabei ist das Dong Xuan Center immer wieder im Visier der Behörden. Erst 2018 hatte die Bundespolizei bei einer Razzia neben mehreren Wohnungen auch das Center durchsucht, zahlreiche Akten wurden beschlagnahmt. Die Aktion richtete sich gegen eine vietnamesische Schlepperbande, mehrere Haftbefehle wurden vollstreckt. Die Verdächtigen sollen Scheinehen mit Deutschen organisiert haben, um Vietnamesinnen nach Deutschland zu bringen – als billige Arbeitskräfte.
Die Banden greifen auf „sichere Unterkünfte“ zurück
Ermittler sprechen von einer Drehscheibe, von einem Logistikzentrum der Schlepper auf dem Weg von Moskau, wo Vietnamesen kein Visa brauchen, nach Polen und weiter nach Großbritannien oder in die Benelux-Staaten. Die Polizei dagegen erklärt nun offiziell: „Bei dem Dong Xuan Center handelt es sich in diesem Kontext um einen sporadischen Anlaufpunkt für Schleuserfahrten.“
Häufiger würden die Banden auf „sichere Unterkünfte“ zurückgreifen, um die geschleusten Vietnamesen unterzubringen. Und bereits in Berlin müssten die Vietnamesen Zwangsarbeit leisten, um die Schlepperbanden zu bezahlen, bevor sie weiter nach Westen gebracht werden.
Die Polizei nennt verschiedene Tätigkeiten, zu denen die Vietnamesen gezwungen werden: „Auspacken, Einräumen von Ware, Erbringen von Dienstleistungen, Aufräumen, Reinigen bis hin zu Tätigkeiten in der Gastronomie“, aber auch der Handel mit unversteuerten Zigaretten. „Fälle, in denen Personen zur Prostitution gezwungen wurden, sind bisher nicht ermittelt worden“, heißt es.
Eigentlich sinkt die Zahl der vermisst gemeldeten Vietnamesen
Gewerbeaufsicht, Polizei oder Zoll erfahren von der Zwangsarbeit zunächst durch Kontrollen. Minderjährige ohne Papiere werden ans Jugendamt übergeben. Doch die jungen Vietnamesen verlassen die Einrichtungen des Kindernotdienstes oder der Jugendhilfe einfach wieder. „Es ist davon auszugehen, dass diese wieder illegal einer Tätigkeit nachgehen, um die Fortsetzung der Schleusung finanzieren zu können“, erklärt die Berliner Polizei.
Die Behörde äußerte sich auch zur hohen Zahl von 472 seit 2012 in Berlin als vermisst gemeldeter Kinder und Jugendlicher aus Vietnam. Wie bei allen 40.000 zwischen 2012 und 2019 als vermisst gemeldeten Kindern und Jugendlichen in Berlin, würden die meisten „wieder aufgefunden, angetroffen, aufgegriffen“ – oder sie „kehren alleine wieder zurück“. Grundsätzlich sinke die Zahl der vermisst gemeldeten minderjährigen Vietnamesen, 2014 waren es 127, im vergangenen Jahr 58.
Wie viele der 472 in den vergangenen sieben Jahren vermissten Kinder und Jugendlichen aus Vietnam wieder aufgefunden wurden und wie viele als dauerhaft vermisst gelten, blieb unklar. Auf Nachfrage hieß es, 80 bis 90 Prozent tauchten wieder auf. Heißt im Umkehrschluss: 47 bis 94 minderjährige Vietnamesen, die seit 2012 in Berlin vermisst wurden, sind dauerhaft verschwunden.
Die organisierten Strukturen erschweren die Ermittlungen immens
Mit ihrer Erklärung will die Polizei vor allem eines deutlich machen: Die Behörde kennt das Problem und kümmert sich. Schwere Straftaten der organisierten Kriminalität wie Menschenhandel, Schleusung und Ausbeutung „stellen einen der Ermittlungsschwerpunkte dar“. Die Einschleusung werde in komplexen Ermittlungsverfahren bekämpft. Ziel sei es, die „Menschen aus dem Griff der Schleuserbanden zu befreien“ und die Strukturen „zu zerschlagen“. Zugleich offenbart die Polizei, wie schwierig es ist, dagegen vorzugehen: „Die organisierten Strukturen, das klandestine Vorgehen und der hohe Grad an Verschwiegenheit erschweren die Ermittlungen immens.“
Auffällig wenig und zurückhaltend äußert sich die Polizei zum Schicksal der minderjährigen Vietnamesen und zum Dong Xuan Center – anders als andere Behörden. Beim Zoll heißt es etwa: In den vergangenen Monaten seien Beamte in mehreren Bundesländern bei Razzien in vietnamesischen Nagelstudios immer wieder auf illegal Beschäftigte, darunter auch Minderjährige, gestoßen.
„Es gibt dabei Verbindungen nach Berlin, offenbar auch in das Dong Xuan Center, das wissen wir aus den Ermittlungen“, sagte Michael Bender vom Hauptzollamt Gießen dem RBB. „Wir haben Hinweise darauf, dass diese Fälle im Zusammenhang mit weiteren Fällen bundesweit stehen und dass mittels krimineller Schleusermethoden Minderjährige für Nagelstudios illegal nach Deutschland gebracht werden.“
Bei den Behörden besteht Nachholbedarf
Auch bei einem laufenden Prozess gegen eine Schlepperbande im polnischen Poznan haben Zeugen laut RBB bestätigt, dass das Dong Xuan Center in Lichtenberg eine wichtige Zwischenstation der Schlepper sei. Nach Angaben der Bundespolizei ist die Zahl der illegal nach Deutschland eingereisten Vietnamesen beständig angestiegen. Zunehmend seien darunter auch Minderjährige.
Die werden auch in Brandenburg aufgegriffen und an die Jugendämter übergeben – und verlassen die Nothilfeeinrichtungen wieder. Auf diese Weise sind seit 2013 allein in Brandenburg 32 minderjährige Vietnamesen spurlos verschwunden. Die Bundespolizei hat 2018 an den Grenzen zu Polen und Tschechien je 13 und 15 minderjährige Vietnamesen aufgegriffen und der Jugendhilfe übergeben. Danach folgte alles dem üblichen Drehbuch: Die Jugendlichen sind wieder verschwunden. Die Behörden gehen davon aus, dass die Jugendlichen klar instruiert und Treffpunkte verabredet sind, an denen sie von den Schleppern eingesammelt werden.
Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) sieht bei den Behörden Nachholbedarf im Umgang mit den Schlepperbanden. Der BDK Berlin hatte Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) vor einem Jahr konkrete Vorschläge gemacht, wie der Menschenhandel besser bekämpft werden kann. Nötig seien etwa eine speziellen Abteilung der Staatsanwaltschaft und eine konkrete Landgerichtskammer, gemeinsame Schulungen für Polizei und Justiz und möglicherweise ein erleichtertes Aufenthaltsrecht für Opfer von Menschenhandel. Letzteres befürwortete Behrendt laut BDK in seiner Antwort, die Justiz sieht er aber ausreichend aufgestellt.