Aktiv im Alter: Berlin ist die Hauptstadt der Single-Senioren
Mehr als eine Million Alleinstehende leben in Berlin, fast ein Drittel von ihnen ist älter als 60 Jahre. Pflegebedürftig sind die wenigsten, die größte Gefahr ist die soziale Isolation. Drei Beispiele für ein aktives Leben im Alter.
Sechs Tage in der Woche sammelt sie ihre Kräfte, diszipliniert und mit Vorfreude. Am siebten Tag geht sie hinaus ins Leben. Es ist aufregend, voller Menschen und Musik, es katapultiert sie in andere, längst vergangene Zeiten. Dieses Leben, das sie sich immer mittwochs gönnt, ist so schön, dass sie davon nicht genug bekommen kann.
In ein paar Tagen wird sie 90.
Gerda, die ihren Nachnamen für diese Geschichte nicht verraten hat, sitzt auf einem Stuhl, gleich neben der Live-Band "Simone und ihr flotter Dreier", ihr Stammplatz im Hinterzimmer einer von außen betrachtet ganz und gar unspektakulären Eckkneipe. Simone und ihre Band spielen Wirtschaftswundermusik, fröhlichen Swing und Rock ’n’ Roll aus den 50er und 60er Jahren. Über das abgewetzte Parkett tänzeln Pärchen an Gerdas Stuhl vorbei, plötzlich hält Simone ihr das Mikrofon hin, und die kleine Frau, deren Rücken die Osteoporose in die Waagerechte gezwungen hat, singt: "Cindy, oh Cindy, dein Herz muss traurig sein, der Mann, den du geliebt, ließ dich allein."
Das Kastanienwäldchen in Alt-Reinickendorf, Residenzstraße, gleich gegenüber vom kleinen Schäfersee gelegen, ist keine gewöhnliche Eckkneipe. Fast jeden Tag ein Event, montags Western und Country, dienstags Karaoke, mittwochs Petticoat-Musik, donnerstags Rock ’n’ Roll und am Wochenende zweimal Disco zum Partymachen für die Jugend. Die Kneipe ist eine Art Flüchtlingslager für Menschen, die sich nach unkomplizierter Gesellschaft sehnen. Draußen im Kiez, dicht an den Wedding gepresst, steigt die Kriminalitätsrate und die Einkommensgrenzen rutschen herab.
Sie kommt seit Jahren in diese Kneipe. Hier hat sie das Gefühl: Alles ist gut
Das Gebäude des Kastanienwäldchens existiert seit 150 Jahren, es garantiert Stabilität und Konstanz im rastlosen Alltag. Einst war es das Schäferhaus, heute hütet der Wirt und ehemalige Vorsitzende der Partei Die Grauen, Norbert Raeder, 42, eine andere Herde: Es sind Leute, wie man sie noch aus Romanen von Hans Fallada oder Alfred Döblin kennt, ehrliche Leute, manchmal auch strauchelnde Existenzen, vom normalen Leben Gezeichnete, die zu Hause sind in den neuen Untiefen einer prekär gewordenen Klein-Bürgerlichkeit rund um die Residenzstraße und den Franz-Neumann-Platz. Das sind Norbert Raeders Schäfchen, und in seiner Kneipe können sie so sein, wie sie sind. Geht draußen auch vieles den Bach runter, zerbrechen Freundschaften, stirbt der Partner, macht die Firma dicht - im Kastanienwäldchen dürfen die Gäste sich dem beruhigenden Gefühl hingeben: Alles ist gut.
Es ist genau diese Atmosphäre einer lustig-lauten Gesellschaft, die Gerda gesucht hat wie ein Überlebenselixier. Sie ist allein. Schon seit so vielen Jahren, dass sie aufgehört hat, sie zu zählen. Aber hierher schleppt sie sich, von Heiligensee, im äußersten Nordwesten Reinickendorfs gelegen, erst mit dem Bus, dann mit der U-Bahn, ganz auf sich gestützt. So will sie es. Zurück wird sie gebracht, auch wenn sie es nicht gerne zulässt, sie gibt lieber statt zu nehmen. Wenn sie endlich in Norbert Raeders Kneipen-Wohnzimmer angekommen ist, fühlt sie sich in Sicherheit. Sie sagt: "Niemand da draußen akzeptiert mich so, wie ich hier akzeptiert werde."
Das Leben schlägt Wunden in die Seele und in den Körper, bei jedem Menschen, der älter wird. Gerda aber sagt, "ich jammer nicht, ich mecker nicht, und ich werde mich nie isolieren."
Woher nehmen die alten Singles den Mut zum Dableiben, Mitmachen, zum Miteinander?
Berlin hat über eine Million Singles, Menschen, die statistisch betrachtet in Einpersonenhaushalten leben. Berlin ist die Single-Hochburg des Landes, die Single-Senioren-Hauptstadt. Die allein lebenden Senioren über 70 Jahre sind bereits die größte Gruppe, aber es kommen große Single-Generationen hinterher. Die Zahlen sind eindeutig, der Trend ist unumkehrbar. Noch kennen die heutigen alt gewordenen Singles ein anderes Leben, die meisten von ihnen hatten Familien und Kinder. Sie können zurückblicken auf Beziehungszeiten, in denen sie liebten und stritten, sich scheiden ließen oder den Partner zu Grabe trugen. Mal waren diese Beziehungskisten öde, mal prickelnd, manche waren verstörend, manche betörend wie Blumen zum Hochzeitstag.
Aber diejenigen, die heute zwischen 40 und 50 Singles sind und bleiben werden, die statistisch gesehen zweitgrößte Singlegruppe - aus welchen Erinnerungsquellen werden sie im Alter schöpfen? Woher werden sie den Mut nehmen zum Dableiben, Mitmachen, zum Miteinander, das doch die Grundlage für eine menschliche Gesellschaft bildet?
Wie Peter Schmidt sich mit Square Dance aus der Gefahrenzone sozialer Isolation tanzt
Weit entfernt von Reinickendorf, in einem Neuköllner Café unweit der Lipschitzallee, grübelt Peter Schmidt über sein Leben nach. Er ist schlaksig wie ein Pubertierender, seine weißen Haare türmen sich wie Wolken am Himmel. Dreimal war er verheiratet, hat drei Kinder, aber seit über 15 Jahren lebt er allein. Es hat einfach nicht funktioniert mit ihm und den Frauen. Nur mit Bella, seiner Hündin, war er glücklich. "Die hat zugehört", er lacht, "die hat auch nicht widersprochen."
Peter Schmidt, geboren 1940, mit vier Jahren nach Berlin gekommen, ist nicht freiwillig zum Alleinstehenden geworden. Es ist halt passiert, und er glaubt, es hat etwas damit zu tun, wie er ist als Mann. Oder besser: wie er war. Groß geworden in den Trümmern von Berlin, der Vater starb als Kriegsgefangener in Russland, organisierte Peter Schmidt schon als Kind die Kohlen und das Essen für Mutter und Bruder. Er musste stark sein und mutig, der Pimpf. Und so wurde er Dachdecker, weil man in diesem Beruf ein ganzer Kerl sein konnte. Er ist auf die höchsten Dächer geklettert und hat sich, wie er sagt, "bestimmte Dinge, die er haben wollte, mit Mutproben erbettelt".
Dabei wohnte in ihm immer auch die Angst. Woher sie kam, das wusste er nicht. Ein Mann hat schließlich keine Angst zu haben, der macht einfach drauflos, der wettet und zockt, und ein Mann trinkt auch. Nur Gefühle zeigt er nicht. Die erste Frau verließ ihn samt der Kinder. Er ging auf Entzug, wurde trocken, aber das mit den Gefühlen und den Frauen, die Anforderung liebevoll zu sein, das blieb ein Problem für ihn, diesen "sehr männlichen Mann", wie er es ausdrückt - der jetzt im Alter ganz und gar nicht hart erscheint.
"Wenn man es kann, wird man umgarnt"
So musste sich Peter Schmidt mit sich selbst arrangieren, sich seinen verborgenen Gefühlen stellen. Zum Glück hat er es getan, hat sich nicht eingeschlossen, sondern hat sich gekümmert: Er ist vom Dach gestiegen und zur BVG gegangen, er ist Gewerkschafter geworden, Sozialdemokrat, und vor allem: Tänzer. Mit amerikanischem Square Dance tanzte er sich aus der Gefahrenzone sozialer Isolation. "Wenn man es gut kann, und ich hab mir sagen lassen, ich kann es ganz gut, dann wird man umgarnt", sagt er und sein schmaler Oberkörper strafft sich. Wenn er zu Hause sitzt in seinen zweieinhalb Zimmern und die Einsamkeit in ihm hochkriecht, dann legt er eine CD ein und tanzt.
Es ist natürlich gar nicht einfach, allein zu sein, aber für ihn, findet er mit seinen 72 Jahren, sei es vielleicht besser so. Man brauche nur ein Hobby, Beschäftigung und Menschen, für die man sich einsetzen kann. Schmidt war schlau genug, sich sein Hobby zu suchen, bevor er in Rente ging. "Aber das machen die wenigsten Männer", sagt er. In den vielen Jahren, in denen er in Neukölln zum Beispiel Benefiz-Konzerte zugunsten von Kindern organisiert und sich für die Menschen in seinem Kiez engagiert, hat Schmidt immer wieder eine Erfahrung gemacht: Viele Männer, die allein sind, wollen angesprochen werden. Sie warten sehnsüchtig darauf, aber das Warten, diese sie selbst oft irritierende Passivität, in der sie stecken wie in einem abgeschlossenen Raum, verbittert auch.
Jutta Kollmorgen kennt Peter Schmidt nicht, sie sind sich nie begegnet, aber sie würden sich wohl verstehen. Sie machen sich ganz unabhängig voneinander Gedanken darüber, wohin sich diese Gesellschaft bewegt, wenn immer mehr Menschen "in Ruhe gelassen werden wollen", weil sie meinen, alleine besser klar zu kommen. "Dabei ist man alleine gar nichts", findet Kollmorgen.
Sie sitzt am Berliner Seniorentelefon, einer Einrichtung des Humanistischen Verbands, und bekommt gemeinsam mit ihren Kollegen mit, welche Probleme alleinstehende, ältere Menschen haben. Viele sind in sich gekehrt, gerade wenn der langjährige Partner stirbt, aber es gibt auch eine ganze Menge Leute, "die sich nur ausheulen, aber nichts verändern wollen", sagt Jutta Kollmorgen. Sie kann das nicht verstehen.
Selbstverständlich hat sie ihre Eltern gepflegt
Kollmorgen gehört zu einer Generation von Singles, die über viele Jahre ein Familienleben und ein Leben mit Partner geführt haben. Genauso wie Peter Schmidt und Gerda aus dem Kastanienwäldchen. Sie wissen, was es heißt, Kompromisse einzugehen, zurückzustecken, solidarisch zu sein, Fehler zu machen. Zu verzeihen. Gerda hat "selbstverständlich" ihre Eltern und die Schwester bis zur eigenen Erschöpfung gepflegt. Aber nun kommt hinter ihnen eine neue Generation, die, wie es etwa Jutta Kollmorgen mit ihrem Team beobachtet, "oft gar keine Partnerschaft will". Sie hören die Argumente ihrer Kinder, die sagen, als Single kämen sie viel besser zurecht, sie seien flexibler, angepasster an diese rasanten Zeiten. Aber später im Alter, vermutet ein Kollege Kollmorgens, kommen die dicken Tränen. "Menschen, die sehr lange alleine leben, entwickeln negative Einstellungen. Sie können keine Wärme ausstrahlen, lehnen Kinder ab und werden engstirnig und egoistisch", sagt Kollmorgen. So gehe der zwischenmenschliche Reichtum einer Gesellschaft schleichend verloren.
Kollmorgen findet, dass ein Partner, so wie sie es erlebt hat, letztlich nicht zu ersetzen sei. "Auch nicht von der eigenen Familie." Es fehle einfach die Geborgenheit. Sie war zweimal verheiratet, das erste Mal 30 Jahre lang, sie hat drei Kinder und sechs Enkel. Als auch ihr zweiter Mann starb, war sie 58. Dann ist sie durchgestartet und ist in gewisser Weise auch ein bekennender Single geworden. Das lag auch am Sex.
Sie ist jetzt 73, aber sie war immer eine selbstbestimmte Frau. Geboren im Harz, aufgewachsen in Quedlinburg, erst macht sie eine Ausbildung zur Feinmechanikerin, später studiert sie in Leipzig, und in Berlin wird die politisch engagierte Diplom-Pädagogin Lehrerin und arbeitet bis zur Wende als Schuldirektorin.
Als sie verheiratet war, hat sie gerne geflirtet, aber sie war treu. Mit knapp 60 Jahren war das körperliche Bedürfnis nach einem Mann nicht verschwunden. Und so zieht sie los zum Tanzen, und ist sich oft schon vorher sicher: "Heute lernst du einen kennen". Wie sie das gemacht hat? Sie lächelt. "Körpersprache", beim Tanzen sei das sehr einfach. Jedenfalls hätten die Männer schnell kapiert, was sie wollte. Kollmorgen weiß, dass das Thema Sexualität im Alter "totgeschwiegen wird", es ist unter den Senioren, die sie kennt, ein "totales Tabu". Peter Schmidt hat es anders ausgedrückt, er hat gesagt, viele Männer würden unter sich gerne noch darüber sprechen und prahlen, nur passieren würde wenig. Auch er sei noch interessiert, die Sehnsucht nach körperlichem Kontakt sei schon vorhanden. Aber bei den meisten Männern, die er kenne, sei die Sehnsucht nach einem Gesprächspartner größer als die nach einem Sexualpartner.
Sie hat verheiratete Männer aufgerissen. So war sie sicher, dass sie nicht mehr von ihr wollten als sie von ihnen
Jutta Kollmorgen hat getan, was sich Frauen in ihrem Alter oft nicht mehr trauen. Sie hat Männer aufgerissen, fast immer waren das verheiratete Männer - so war sie sicher, dass die auch nicht mehr von ihr wollten als sie von denen. Erst vor einiger Zeit hat Kollmorgen aufgrund einer Operation beschlossen, "aufzuhören", da ist jetzt eine Scham, die sie nicht so leicht überwinden kann.
Aber sie hat ja genug Beschäftigung, und wenn auch ein Mann nicht wirklich zu ersetzen ist, wie sie findet, so könne doch eine gute Freundin ebenso Glücksgefühle in einem auslösen, wenn man die Welt zusammen entdeckt. Oder shoppen geht. Sie fährt jeden Mittwoch zum Seniorentanz in Tegel, sie spielt Karten in einem Klub, sie singt im Chor, und sie arbeitet seit vier Jahren für das Seniorentelefon. "Es macht mir so großen Spaß, und ich kann meine Erfahrung einbringen und helfen. Das passt", findet sie.
Bevor sie beim Seniorentelefon landete, heuerte sie mit 60 Jahren als ehrenamtliche Betreuerin bei einem Reiseunternehmen an, das später Pleite ging. Sie fuhr per Bus durch ganz Europa und hat gelernt, "wie wunderbar es ist, mit älteren Menschen zusammen zu sein". Die Freizeit sinnvoll zu verbringen, lernen, singen, sich unterhalten, das alles habe sie glücklich gemacht. Und so hat sie, wie sie sagt, "gar nicht gemerkt, dass ich ein Single bin". Das sei jetzt auch gut so, sie sucht nicht. Sie fühlt sich frei.
Gerdas Botschaft: Bleibt nicht allein!
Im Kastanienwäldchen ist Gerda seit vier Jahren Stammgast. Simone, die Sängerin und eine Vertraute, hat sie hierher gebracht. Beim Fasching 2011 hat Gerda den ersten Platz für das beste Kostüm belegt. Sie war als Baby verkleidet, mit Schnuller und Rassel. Jetzt hat sie Simone, der Sängerin, das Mikro zurückgegeben und lacht albern wie ein kleines Mädchen. Hinter dieser Ausgelassenheit verbirgt sie die Schatten ihres Lebens, über die sie nicht spricht. Sie hat sich darauf eingelassen, in dieser Geschichte vorzukommen, weil sie eine Botschaft hat. Bleibt nicht allein! Diese Botschaft erscheint einem nur dann simpel, wenn man keine Fantasie hat, um sich vorzustellen, was in 90 Jahren wohl alles geschehen sein könnte im Leben dieser mutigen Frau. Sie selbst lebt bis heute in einer normalen Wohnung, macht den Haushalt, geht einkaufen, kocht. Ihr eiserner Wille ist körperlich zu spüren, ohne dass sie Härte ausstrahlt. Sie ist mit sich im Reinen.
Irgendwann, als die Eltern und die Schwester nicht mehr da und die Kinder aus dem Haus waren, muss Gerda für sich beschlossen haben, neu anzufangen und auf sich zu achten. Und so hat sie sich runtergefahren auf ein bescheidenes Maß von Aktivität, das es ihr erlaubt, die Dinge noch selbst in die Hand zu nehmen. Sie zelebriert jeden Tag, als sei es der letzte, manchmal gönnt sie sich Fisch aus der Markthalle. Sie hört viel Radio, um sich zu informieren, und ab und an finden sich Näharbeiten, die zu erledigen sind. Sie steht früh auf, frühstückt lange und freut sich auf den Tag. Und auf Mittwoch!
Sie macht nur das, was möglich ist, aber sie ist offen für alles, was ihr Freude bereitet. Sie liebt die Kunst und die Musik. Ihre doppelte Reduzierung auf das Wesentliche und das Schöne ist ihre ganz persönliche Kunstform, eine Senioren-Single-Kunst sozusagen. Ein netter Nachbar ist auch noch da, und die Tochter, aber sie möchte niemandem zur Last fallen. Sie hat das erlebt, wie es ist, wenn ein Körper abhängig ist von anderen. Bisher war sie immer die Pflegende. So soll es bleiben.
"Natürlich ist das kein gutes Gefühl, dass alle weg sind"
Was vor ihrem Singlesein war, Mann, Beruf, Haus, das bleibt ihr Geheimnis. Sie überspielt die Vergangenheit mit Humor, sie sagt: "Ich habe sie alle ins Jenseits befördert." So infiziert sie ihre Umgebung mit Fröhlichkeit und flüstert erst dann: "Natürlich ist das kein gutes Gefühl, dass alle weg sind."
Früher ist sie oft ausgegangen, und wenn ein Wanderzirkus in der Stadt Halt machte, hat sie die Artisten bewundert und sich in die Manege geträumt. Wenn Simones Band im Kastanienwäldchen spielt, sitzt sie in Gedanken in einem Tanzlokal mit Tischtelefon an der Friedrichstraße. Sie ist wieder 18, es ist "die schönste Zeit, die Zeit, als ich tanzen gehen durfte".
Reicht Erinnerung, um Einsamkeit auf Distanz zu halten? Vielleicht wenn sie eingebettet ist in ein aktives Hier und Jetzt.
{Seitenumbruch-Titel}
Die Kinder, sie sind weg. Peter Schmidt hat sie nie wieder gesehen, seitdem seine Frau ihn verlassen hat. Er war 40. Es sind Wunden, die ihm auf der Seele brennen. Oft hat er zu Hause im Bett gelegen und sich ausgemalt, wie es wäre, wenn er plötzlich bei denen vor der Tür stünde. Er habe sogar eine Bekannte im Einwohnermeldeamt, die könnte für ihn herausbekommen, wo sie genau wohnen. Nein, das mit seinen Kindern werde er sich nie verzeihen. Wenn er nun für benachteiligte Kinder in der Gropiusstadt sammelt, lautet sein Motto auf den Flyern: "Kinder brauchen Freunde".
Damals hat er sich nicht ausreichend gekümmert. Er hat für die Familie gesorgt, sie finanziert, das schon, aber er war nicht präsent. Vielleicht hat ihn seine Geschichte sensibler dafür gemacht, den, wie er findet, "schwächer werdenden Zusammenhalt" in der Gesellschaft zu wittern wie ein Tier die Gefahr. Die Menschen seien sich fremd geworden, das Selbstverständnis des Kümmerns - verschwunden.
Schmidt pflegt seine Hobbys. Bei den "Havel Town Squares", einer Tanzgruppe in Spandau, fühlt er sich zu Hause wie in Neukölln. Square Dance ist nicht einfach. Vier Paare werden von einem "Caller", einem Ansager, durch maximal 70 Tanzfiguren geführt. Der Caller bestimmt die Reihenfolge, man muss fix sein im Kopf und mit den Füßen. Jeder ist auf den anderen angewiesen, alle sind miteinander verbunden. Das ist es, was Peter Schmidt daran so gern mag. In Spandau, wo die Gruppe in einem kühlen, nur von Schultischen umrahmten Kirchenraum übt, tanzt Schmidt stolz neben seiner jüngeren Tanzpartnerin.
Er hat keine Antwort auf die Frage, wer ihn mal pflegen könnte
Eines Tages wird auch er Hilfe brauchen, der körperliche Verfall wird nicht aufzuhalten sein. Aber diesen Gedanken verdrängt Schmidt genauso konsequent wie viele andere Singles, wie Jutta Kollmorgen und selbst wie Gerda. "Ich habe Angst davor, die Entscheidung über meinen Körper anderen überlassen zu müssen. Deshalb bewege ich mich und halte mich geistig fit", sagt er. Aber die Frage, wer ihn pflegen könnte, kann er nicht beantworten.
Angst ist für alle Menschen ein eher schlechter Ratgeber, Singles macht sie noch einsamer. Am Seniorentelefon können Jutta Kollmorgen und die anderen im Team eine beängstigende Entwicklung beobachten. Immer mehr ältere Menschen, die allein leben, "bauen sich eine Welt, die nicht stimmt", sagt sie. Viele Ältere würden sich einfach zu wichtig nehmen, weil sie glaubten, "alle müssten auf sie Rücksicht nehmen". Immer wieder hat Kollmorgen Menschen am Apparat, "die nicht wagen, den ersten Schritt zu tun" und die doch so gerne noch gebraucht würden, die etwas können, die etwas einbringen könnten. Männer sind besonders feige. Viele, sagen die Ehrenamtlichen vom Seniorentelefon, suchten nur eine "Putzfrau, die sie bedient".
Gerda, Peter Schmidt und Jutta Kollmorgen haben sich für "Teilhabe" entschieden, freiwillig, mutig und unverdrossen. Sie wissen, dass es viele Menschen gibt, die das aufgrund ihres gesundheitlichen Zustands nicht mehr können, die dement sind und pflegebedürftig. Aber sie wissen auch, dass "viele fitte Alte sich aus nichtigeren Gründen hängen lassen und aufgegeben haben, obwohl es doch in jedem Bezirk Möglichkeiten gibt, sich zu engagieren oder andere zu treffen".
Alleine, glücklich
Jutta Kollmorgen musste aufgrund schlechter Blutwerte im letzten Jahr ihre Ernährung komplett umstellen, sie hat fast 30 Kilo abgenommen. Sie ist stolz darauf und spricht es aus. Sie gefällt sich wieder, freut sich über "neue Lebensqualität". Sie lacht und sagt, vielleicht überlege sie sich das mit dem selbst verordneten Sexverbot doch noch mal.
Peter Schmidt wird am heutigen Samstagabend um kurz vor 19 Uhr innerlich aufgeregt und nach außen betont gelassen im Gemeinschaftshaus Gropiusstadt, Bat-Yam-Platz 1, stehen und die Bands für sein Benefiz-Konzert begrüßen. Seit 1999 konnte er fast 60.000 Euro an Einrichtungen spenden, die Kindern helfen. Und wenn er nachts nach Hause kommt, wird er sich eine CD anmachen und tanzen. Alleine, glücklich.
Gerda versucht bei ihrer täglichen Gymnastik unermüdlich, einen Fuß über den Kopf zu bekommen. Ihr krummer Rücken komme ihr doch schließlich entgegen, witzelt sie über das eigene Gebrechen. Manchmal, wenn sie in ihren kleinen Garten geht, übt sie für sich, die Beine beim Laufen ganz bewusst hoch zu nehmen, hinweg über Stock und Stein. Nein, stolpern wird sie nicht.