Ferien in der Hauptstadt: Berlin im Sommer - eine Sympathieerklärung
In den großen Ferien wird Berlin zu einer besonders lebenswerten Stadt - die viel besser funktioniert, weil alle mehr Platz haben.
Viele Weltstädte erstarren, wenn es Sommer wird. Paris, Rom, New York in den Sommerferien? Arenen für schwitzende Touristen und all jene, die ihnen zu Diensten sein müssen. Aber Berlin? Berlin ist irgendwie anders. Nichts stirbt aus, nichts erstickt unter lähmender Hitze. Das Leben bleibt, wo es hingehört, aber es fühlt sich leichter an in den Ferien, läuft geschmeidiger, weniger gehetzt.
Mittwoch, 15 Uhr: Die Schulen haben sich geleert, alle streben werweißwohin. Auf der Stadtautobahn zwischen Innsbrucker und Rathenauplatz, dort, wo an jedem Werktag des Jahres giftiger Verkehr alle Spuren verstopft, ist auch an diesem Nachmittag alles dicht, die Leute müssen halt erst einmal raus.
Aber wir wissen: Nach einigen Tagen rollt es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, die Berufspendler verjagt und sämtliche Fahrten auf das unbedingt Notwendige beschränkt. Und in den U- und S-Bahnen tritt das seltene Phänomen des freien Sitzplatzes auf. Klar: Die Schüler sind weg und die Lehrer auch, erst einmal zu Hause, dann verreist. Und wer nicht da ist, der bestellt auch nichts bei Amazon - damit schmilzt der Lieferverkehr zusammen und all das andere Gedöns der Großstadtmenschen.
Urlaub, ohne die Stadt zu verlassen
An allen Ecken löst sich aus dem Dunst des Jahres der Umriss einer lebenswerten Stadt, die viel besser funktioniert, wenn allen ein wenig mehr Raum bleibt. Und da routinemäßig auch die Politik bis auf die üblichen Stallwachen verschwindet, gibt es niemanden mehr, der mit echten oder ausgedachten Problemen Aufsehen erregen könnte. (Notiz: Unbedingt mal nachfragen, ob sie auch am BER Sommerferien machen.)
Das Schöne an Berlin ist ja: Es ist schön. So schön, dass wir im Prinzip Urlaub machen können, ohne die Stadt zu verlassen. Fragen Sie einen eingeborenen Berliner, was er mit dem Wort „Ferien“ verbindet, und er wird sagen: Den leicht brackigen, an Enten, Frösche und Aale erinnernden Geruch des Wassers von Wann- oder Müggelsee, der sich mit der richtigen Dosis Sonnencremeduft und reichlich Wohlfühlhormonen zum sommerlichen Ambrosia verbindet.
Erschöpft vom Aufblasen auf der Luftmatratze zusammensinken und erst wieder wach werden, wenn einer mit dem Eis vorbeikommt. Tattoos in Szene setzen, den Sonnenbrand als Trophäe tragen, wenn mal Wolken durchziehen, die Füße immer im Wasser platzieren. Und vom Dreier runter nur, wenn alle zusehen.
Sommerferien in Berlin, das bedeutet: Nicht immer nur vorbeihasten, sondern auch mal hinsetzen, in einen Biergarten, ein Café. Beim Italiener nicht immer nur Bier und Pizza bestellen, sondern draußen unter den hohen Bäumen auch mal eine Vorspeise probieren und den Wein, Giuseppe, du weißt schon, den du selbst immer trinkst, und die ganze Flasche mit Eiskühler, per favore. Mediterranes Lebensgefühl? Kriegen wir auch am Landwehrkanal hin.
Die müffelnde Realität der Hauptstadt
Natürlich sind die Berliner Sommerferien auch ein Grund zum Verreisen, das waren sie immer. Alte Postkarten zeigen die Lust der Städter an der Sommerfrische in Hohwacht oder Heringsdorf, Zella-Mehlis oder Berchtesgaden. Im Morgengrauen den Kofferraum des Käfers zuklappen und mit vollem Tank gottergeben in Richtung Grenzkontrollstelle Dreilinden fahren, bloß raus aus der ummauerten Stadt – das steckt in den Genen der Alteingesessenen West-Berliner wie die Erinnerung an die Luftbrücke. Der Ost-Berliner hatte es einfacher, sofern er den Urlaub in Graal-Müritz oder Waren überhaupt ergattern konnte, womöglich sogar am Balaton, auch eine Art Glücksspiel. Und nicht weniger unvergesslich.
Heute ist es anders. Der Druck der Mauer ist genauso vergessen wie die graue, nach Zweitaktbenzin müffelnde Realität der „Hauptstadt“. Man könnte bleiben, die Luft ist heute sogar an der Leipziger Straße besser als vor 30 Jahren im Grunewald. Aber ein Last-Minute- Flug nach Irgendwo-mit-Strand ist schnell gefunden, nur dass die Abfertigungsprozedur in den höllischen Hallen von Tegel oder Schönefeld inzwischen genauso strapaziös und unberechenbar ist wie einst die Schnüffelei der DDR-Grenzer an den Transitautobahnen. Diese sind inzwischen fast alle dreispurig und vom Tempolimit befreit, außer an Baustellen und anderen Staus, die sich ergeben, weil mal wieder einer zu scharf gebremst hat.
Aber ohnehin ist kein Mensch mehr die vollen sechs Wochen unterwegs. Mehr als drei Wochen geben weder das Budget noch die anderen Verpflichtungen her, zwei sind fast schon die Obergrenze, und wer noch einen Monat am Klopeiner See verbringt wie die Wohlstandsbürger der Adenauerzeit, der gilt als spießerverdächtig. Habt ihr da wenigstens Wifi? Dann doch lieber zackigen Power-Urlaub mit Flug und All-Inclusive-Buffet – und hinterher den Balkon zur Nachlese mit Sangria nutzen.
Ach, und inzwischen sind natürlich auch im Juli und August Touristen in der Stadt, das war früher anders, da gab es ein richtiges Sommerloch, aber das geben die Hotelstatistiken längst nicht mehr her. Irgendwer klappert mit seinem Rollkoffer immer über den Kollwitzplatz, die Hostels haben Hochsaison, und wer es zu heiß findet, der kühlt sich halt im KaDeWe ab. Möglicherweise haben also auch die Touris erkannt, dass es in Berlin in den Sommerferien eigentlich am schönsten ist. Auch deshalb ist es in Paris und Rom gerade so leer...
Bernd Matthies
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