70 Jahre Bombenkrieg: Berlin bleibt die Hauptstadt der Narben
Vor 70 Jahren fielen Bomben auf Berlin. Die Erinnerung darf nicht sterben. Sie muss persönlich sein und in der Stadt sichtbar. Was hat meine Oma erlebt? Was hat mein Opa getan? Auch wenn die Generation Weizsäcker stirbt, werden diese Fragen bleiben. Ein Kommentar.
Mein Opa war im Krieg; in Frankreich, in der Sowjetunion. Er erzählte mir als Kind immer wieder von den Fahrten und den Märschen, den Bomben und Verwundungen, auch von Frauen. Was aber hat er genau getan? Diese Frage an ihn fiel mir in dem Moment ein, als ich auf der Beerdigung neben seinem Sarg stand, in dem er nur noch mit einem Bein lag. Da war ich längst kein Kind mehr.
Meine Oma war im Krieg; zu Hause, in Berlin. Tagsüber lief sie von Niederschönhausen zum Gesundbrunnen, dort hatte sie in einer Fabrik Kondensatoren für 89 Pfennige die Stunde zusammenzulöten, weil sie nicht als Flakhelferin in Ostpreußen dienen wollte. Nachts fiel der Krieg vom Himmel, sie hatten keinen Keller im Haus und mussten zum Lyzeum laufen. „Und war es mal wieder überstanden, hat Mutter geweint, weil sie sich vor Angst vollgemacht hatte und uns so viel Arbeit machte. Da lache und tröste mal, wenn einem zum Heulen ist und Du ohne Schlaf wieder zur Arbeit musst.“ Meine Oma hat das aufgeschrieben, Jahrzehnte danach, handschriftlich für uns. Damit ich sie noch einmal fragen konnte.
Der Kampf unserer Mütter, unserer Väter brachte Millionenverluste
Berlin. Die Stadt, die heute alle Welt zu lieben scheint. Es ist der gleiche Ort, den die ganze Welt zu hassen gelernt hatte. Weil nur Bomben die entfesselt mordenden und vom Rassenhass selbst geblendeten Deutschen stoppen konnten – es war ein Kampf unserer Mütter, unserer Väter, der Millionenverluste verursachte. An Menschen, an Menschlichkeit. 70 Jahre ist das erst her.
Am 3. Februar 1945 fielen fast 2000 Tonnen Spreng- und mehr als 500 Tonnen Brandbomben auf die Reichshauptstadt. Es war der wohl größte Angriff der Alliierten, bevor der Roten Armee die Befreiung vom Nationalsozialismus gelang. Das Stadtschloss wurde in jener Nacht zerstört – eine Narbe, die nun künstlich mit neuem glatten Stein zugespachtelt wird. Der Anhalter Bahnhof brannte, dessen Ruine als offene Wunde mitten in der Stadt klafft. Hier verlief später die Mauer zwischen den Bürgersteigen und den neuen Weltmächten, hier entsteht heute der Tagesspiegel von morgen, die erste freie Zeitung Berlins nach dem Krieg.
In der gedruckten Sonntagsausgabe und online erinnern wir ausführlich an die Bombennächte vom Februar 1945 – mit Hilfe noch lebender Zeitzeugen, die sich damals in U-Bahn-Schächte flüchten konnten oder zufällig zur falschen Zeit am richtigen Ort waren. Weil diese Stadt ihre Zukunft auf Vergangenheiten aufbaut, die sie nicht vergessen darf, wenn sie sich nicht wieder selbst vergessen will.
Gerade erst hat Deutschland gebannt nach Auschwitz geschaut und das Gedenken an die Befreiung des Vernichtungslagers verfolgt. „In Auschwitz war ein Monat eine Ewigkeit“, erzählte einer der wenigen Überlebenden. „Wie viele Ewigkeiten kann ein Mensch überleben?“ Worte, die für die Ewigkeit nachhallen sollen. Worte auch, die uns erinnern, warum es den Bombenkrieg gegen Deutschland überhaupt gegeben hat. Werden wir uns wirklich auf Dauer ihrer gewärtig sein – jetzt, da die Generation Weizsäcker stirbt und uns ihre Erzählungen zu treuen Händen übergibt? Und wo finden wir mit wachen Augen die Erinnerung in Berlin – der Stadt, von der der Terror des Zweiten Weltkriegs ausging?
Ausländische Touristen suchen heute in der Metropole, die Zukunft verspricht, besonders nach Resten der Mauer und nach Hitlers Führerbunker. Sicher ist es gut, dass sie beides kaum noch finden, denn gerade Berlin lebt davon, aus Trümmern etwas Neues zu erfinden. Ohne das Gestern im Heute gibt es ein Morgen aber nicht.
Inmitten der neu funkelnden City West erinnert der kaputte Turm der Gedächtniskirche an die erloschenen Feuer. Unkaputtbar steht an mancher Straße noch ein Bunker herum, in den ein Künstler sein Loft hineingezimmert hat. In vielen Kellern riecht es zwar nicht mehr nach Kohlenstaub und Kriegsangst, aber Spuren des Überlebens im Berliner Untergrund finden sich noch hinter manch verbogener Stahltür. Wie oft schauen wir bewusst hin?
Berlin. Die Stadt, die heute alle Welt zu lieben scheint. Es ist die deutsche Hauptstadt der Narben – unserer Verwundungen, die mit der Zeit verschorfen, aber dennoch wehtun, wenn man sie berührt. Diese Narben zu zeigen und zu pflegen, sie als Teil der eigenen, auch privaten Geschichte zu begreifen, sie in die Stadterzählung einzubetten und bewusst im Stadtbild wahrzunehmen, bleibt unsere Aufgabe.
Berlin. Das ist die Stadt, die mich erinnert, nicht zu vergessen, was meine Oma erlebt hat. Und mein Opa womöglich getan.
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