Uneinheitliche Corona-Maßnahmen: Bekloppter wird's in diesem Jahr nicht mehr
Einzelne Berliner Bezirke sind von anderen Ländern zu Risikogebieten erklärt worden. Dabei weiß schon in Schöneberg niemand, wo Mitte beginnt. Ein Kommentar.
Mecklenburg-Vorpommern ist nicht Schleswig-Holstein. Diese zugegeben recht banale Erkenntnis hat eine Woche vor Beginn der Herbstferien eine wesentliche Bedeutung bekommen. Wer aus den Bezirken Mitte, Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg beispielsweise einen Urlaub in Travemünde (Schleswig-Holstein) gebucht hat, muss diesen, Stand heute, vollständig in Quarantäne verbringen. Je nach Zimmerservice-Qualität und Anzahl der Kinder kann sich das ganz schön ziehen.
Wer seinen Urlaub allerdings ein paar Kilometer weiter östlich in Boltenhagen (Mecklenburg-Vorpommern) gebucht hat, darf – egal aus welchem Bezirk – seinen Aperol Spritz zwei Wochen lang im Strandkorb genießen. Wer allerdings in Spandau oder Pankow wohnt, der darf sich im Osten und Westen der Lübecker Bucht frei bewegen – egal, wie häufig er in den vergangenen Wochen nachts in der Hasenheide gefeiert hat. Bekloppter wird’s in diesem Jahr nicht mehr.
Grund für das Chaos ist nicht nur die föderale Reisefreiheit, sondern auch die Tatsache, dass das Robert-Koch-Institut die Berliner Bezirke einzeln als Risikogebiete ausweist. Angesichts ihrer Großstadtgröße von 250.000 bis 400.000 Einwohner erscheint das durchaus plausibel. Angesichts des vitalen Wechsels der Bevölkerung zwischen eben diesen Bezirken jedoch jedem Berliner absolut realitätsfern.
Grenzen sind dem Virus bekanntlich egal, zumal solche zwischen Bezirken. Wo Mitte beginnt, weiß schon in Schöneberg niemand mehr, Wedding gehört übrigens ebenso dazu wie Gesundbrunnen und Teile der Kastanienallee.
Da muss der Hostelbesitzer an der See allerdings lange blättern im alten Straßenverzeichnis Kauperts, wenn er unterm Tresen überhaupt noch einen findet. Mal abgesehen davon, dass man zur Anmeldung seiner aktuellen Adresse einen Termin beim Bürgeramt benötigt, was auch ohne Viruslast in dieser Stadt eine Herausforderung ist.
Noch absurder wird die Situation, wenn man sich die Liste der am schlimmsten betroffenen Gebiete in Deutschland anschaut, die zwischen Hamm, Vechta, Duisburg und Cloppenburg inzwischen fünf Berliner Bezirke ausweist, drei davon unter den Top 5. Insgesamt betrachtet liegt die Stadt allerdings noch deutlich unter den als kritisch betrachteten 50 Neuinfektionen pro hunderttausend Einwohnern in sieben Tagen.
Unter den zehn deutschen Corona-Hotspots sind fünf Berliner Bezirke
Und während Schleswig-Holstein einen Bezirk nach dem anderen zum Risikogebiet erklärt, lässt Berlin seit Sonnabend alle innerdeutschen Reisenden quarantänefrei wieder rein – egal, ob sie aus Hamm, Duisburg oder Schleswig-Holstein kommen.
Erklärt wird das weniger mit Unterschieden zwischen Madrid, Mallorca und Meppen, sondern damit, dass es angesichts der vielen Pendler eben lebensfern ist. Und weil man dann konsequenterweise auch Menschen aus Mitte bei der Einreise nach Spandau in Quarantäne schicken müsste. Wer sollte das eigentlich kontrollieren?
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Hier liegt nämlich des Covids Kern: Auch wenn einige Linken-Politiker an die Kraft der Worte glauben, so hilft letztlich nur ein klares Durchsetzen der Regeln. In Neukölln versuchen vier Streifen mit je zwei Ordnungsamtmitarbeitern die Lage im gesamten Bezirk zu kontrollieren. Der verantwortliche Stadtrat sagt schon jetzt: „Wir kommen mit den Tests und den Nachprüfungen nicht mehr hinterher“ – dabei sagen alle Experten, dass genau das der Schlüssel zur Pandemiebewältigung ist.
Stattdessen werden wohl bereits am Dienstag weitere Maßnahmen beschlossen, von „nachschärfen“ war am Wochenende die Rede.
Gesundheitssenatorin Kalayci würde die Kontakte gern auf zwei Familien oder fünf Personen beschränken – und Alkohol ab 23 Uhr verbieten. Doch weitere Verbote treffen die ohnehin gebeutelten Gastronomen, von denen schon jetzt kaum die Hälfte den Winter überleben könnte. Dabei würde es vermutlich reichen, einfach die getroffenen Maßnahmen durchzusetzen. Dann ist es auch egal, wo die Grenze zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern verläuft – und zwischen Mitte und Pankow.