Bewerbung um Paralympics in Berlin: Behindertensportler kämpfen für ihre Spiele
Paralympische Spiele in Berlin? Dafür sind die Voraussetzungen nicht mal schlecht. Trotzdem ärgern sich Behindertensportler über die Strategie des Senats - zum Beispiel, dass das Wort "Paralympia" nicht auf den Werbeartikeln auftaucht.
Für die paralympische Sache begibt sich Sozialsenator Mario Czaja schon mal auf den harten Boden der Tatsachen. Und bekommt dort zu spüren, dass ein zweites Bein in manchen Fällen sogar ein Hindernis sein kann. „Zweibeiner sind beim Sitzvolleyball echt benachteiligt, weil wir nicht so schnell am Boden agieren können wie Einbeiner“, sagt er – schmettert aber trotzdem beim Show-Spiel mit zwei Nationalspielerinnen gleich mal ordentlich los.
Gerade erst hat der Senat zu einem Bürgerforum in Sachen Olympiabewerbung geladen, bei dem Sportsenator Frank Henkel (CDU) durch Abwesenheit auffiel und der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) sich vorzeitig in Richtung Berlinale verabschiedete. Und auch für die Paralympischen Spiele engagiert sich der Senat noch gebremst. Immerhin: Am Donnerstag lud CDU-Politiker Czaja in die Turnhalle der Mary-Poppins-Grundschule in Kladow, um für die Spiele und ihre Wirkung für die Inklusion in der Stadt zu werben.
"Paralympics haben eine große gesellschaftliche Wirkung"
Aber „die Emotionen und die Leistungen, die das Publikum immer mitreißen, kommen bei der Berliner Interessensbekundung viel zu kurz“, sagt der Berliner Leichtathletik-Trainer Ralf Otto, einer der besten Kenner der internationalen paralympischen Szene. Im offiziellen Internet-Auftritt der Berlin-Kampagne „Wir wollen die Spiele“ findet sich kein einziges Werbevideo von Paralympioniken und ihren Leistungen. Nicht mal ein Merchandising-Shirt mit dem Slogan „Berlin für Paralympia“ gibt es.
„Wir benutzen Olympia synonym für Olympische und Paralympische Spiele“, heißt es bei den Anbietern im Auftrag des Senats. Sätze wie dieser aber ärgern die paralympische Szene, die lieber von zwei getrennten Großveranstaltungen spricht. Bei der Berliner Bewerbung gehe es „viel zu sehr rational allein um die Kosten“, sagt auch Sprecher Reinhard Tank vom Behinderten-Sportverband Berlin (BSB). Er vertritt 24 000 Mitgliedern in 200 Vereinen – und etliche Medaillengewinner. Dabei sei das, was Paralympics gesellschaftlich bewirken, unbezahlbar, heißt es beim Veranstalter, dem Internationalen Paralympischen Komitee IPC mit Sitz in Bonn. „Jeder dritte Brite hat seine Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderung verändert“, lautet ein Ergebnis der Spiele in London 2012. Rund 65 Prozent der Befragten sagten, die Paralympics hätten einen Durchbruch in der Frage gebracht, mit welcher Wertschätzung eingeschränkte Menschen betrachtet werden. Vor den Spielen mit jeweils umfassendem Begleitprogramm auch im Vorfeld hatten das nur 40 Prozent erwartet.
In diesem Punkt immerhin macht Berlin eine gute Figur. Im Vergleich zu London 2012, Peking 2008 und Athen 2004 ist Berlin deutlich behindertenfreundlicher, allein im öffentlichen Nahverkehr. Olympia- und Paralympia-Gegner in Berlin kritisieren, die Stadt könne sich einen weiteren Ausbau der Infrastruktur nicht leisten. Experte Ralf Otto aber sieht das genau andersherum. „Berlin wird nur dann in neun Jahren keine maroden Schulen und Sporthallen mehr, dafür aber genügend Wohnungen und Restaurants für Rollstuhlfahrer, Ältere und Menschen mit Kinderwagen haben, wenn gerade wegen der Spiele Gelder für Investitionen fließen, die es sonst nicht gäbe.“
Der Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark soll rollstuhlgerecht werden
Das muss anders sein, wenn 2024, davon geht das Berliner Konzept aus, Paralympioniken in der Stadt in 22 Sportarten um 525 Medaillen kämpfen. Max-Schmeling-Halle, O2-Arena, Velodrom, Schwimm- und Sprung- Halle im Europapark seien bereits behindertengerecht, heißt es im Senatskonzept. Der Friedrich-Ludwig-Jahn- Sportpark soll es noch werden. Die größten La-Olas aber gäbe es wohl bei der Leichtathletik im Olympiastadion. Bei den Sommerspielen in London war das Olympic Stadium mit 80 000 Plätzen täglich ausverkauft.
Leistungen der Athleten mit Behinderung sind besonders eindrucksvoll
„Die Stimmung ist viel besser und die Leistungen der Athleten reißen einen mehr mit als bei Olympia“ – so oder ähnlich äußern sich bei Paralympics viele Zuschauer. In Sotschi 2014 waren die Ränge oft voller als bei Olympia. Das ist typisch, weil die Zuschauer zwei Wochen nach den Olympischen Spielen noch in Sportlaune sind und sich über die günstigeren Tickets freuen. Daher fordern Sportler und Funktionäre, die Paralympics auch künftig nach den Olympischen Spielen stattfinden zu lassen, zumal das zwischen IOC und IPC bis 2024 vertraglich festgeschrieben sei. Der Berliner Senat hatte ursprünglich die Idee, die Reihenfolge umzukehren, um den behinderten Sportlern mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen – ließ sich aber umstimmen, als es Proteste gab.
Bis der Funke bei der Bevölkerung in einer Bewerberstadt zünde, dauere es immer, das sei überall so, sagt Ralf Otto. Der Trend aber ist klar: Bei den Paralympics in Athen 2004 wurden noch 850 000 Tickets verkauft, in Peking 2008 waren es rund 1,5 Millionen und in London schon 2,7 Millionen. 2012 verfolgten 3,8 Milliarden TV-Zuschauer die Leistungen von 4237 Athleten aus 164 Ländern – und das Engagement der 70 000 Freiwilligen.
Mario Czajas Sportsfreunde haben also Grund zur Hoffnung. Bei den nächsten Paralympischen Sommerspielen in Rio vom 7. bis 18. September 2016 spielen übrigens die behinderten und nichtbehinderten Nationalvolleyballer zusammen ein Showmatch.
Alle Infos rund um die Berliner Olympia- und Paralympia-Bewerbung finden Sie auf der Tagesspiegel-Themenseite.