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Berlin: „Befehlen und gehorchen war mir zuwider“

„Bei jeder Straßenschlacht, die die Polizei gewinnt, verliert die Demokratie“, sagt Klaus Hübner, von 1968 bis 1987 Polizeipräsident von Berlin. Jetzt wurde er 80

Sie sind aufgewachsen im „roten Wedding“. Ihr Vater, der starb, als Sie drei waren, konnte Heine auswendig und rezitierte bei Festen: Noch niemand hat aus deutschen Eichen einen Galgen gezimmert für die Reichen. Und schloss mit: „Mein Junge wird ihn zimmern.“ Das klingt nach „roter Socke“ – sind Sie ein Linker?

Im Herzen ja.

Immer noch?

Natürlich. Ich bin nicht einer von denen, die in der Jugend rot sind, und wenn sie dann Verstand kriegen, werden sie schwarz. So alt kann ich gar nicht werden, dass mir das Herz eintrocknet.

Was ist Linkssein für Sie?

Sich für die Schwächeren einzusetzen, immer. Weil für die selten irgendwo Brot gebacken wird. In der Situation sind wir jetzt ja wieder. Linker kann man eigentlich gar nicht sein als zur Zeit, wo man nicht weiß, wie das weitergehen soll. Wo die Umverteilung von unten nach oben stattfindet. Das ist so grässlich – da kann man vielleicht graue Haare kriegen, aber kein hartes Herz.

Sie waren ein Kind aus sozialdemokratischem Haus im Nazistaat. Sie haben Vaters Heine-Bände versteckt und gingen zur Luftwaffe. Sie saßen wegen „Entfernung von der Truppe“ in Arrest und lasen – bei der Alternative Bibel oder „Mein Kampf“ – letzteres.

Die Bibel kannte ich. Und der evangelische Kindergarten, in den ich musste, war für mich ein Ort andauernder Freiheitsberaubung – vor Tisch beten, nach Tisch beten und immer fröhlich sein. Und man bekam nie gesagt, warum. Damit kam ich nicht zurecht. Das Studium von Hitlers Glaubensbekenntnis befestigte mich darin, dass man diese Ideologie durchschauen muss, um für sich selbst Stellung beziehen zu können. Nach dem Krieg habe ich auch „Das Kapital“ und das „Kommunistische Manifest“ gelesen. Und irgendwie zog ich aus allem den Schluss: Es hat alles keinen Sinn ohne Freiheit.

Sie bekamen 1968, da saßen Sie für die SPD im Bundestag, einen Anruf vom damaligen Berliner Innensenator Kurt Neubauer.

Ich dachte erst, der will wissen, was ich vom damaligen Berliner Polizeipräsident Moch halte. Und dann sagte der plötzlich: „Mensch, ick meene, willst du det machen!“ Es war ja nicht gerade die entspannteste Situation zu der Zeit – absolut nicht. Die „alten West-Berliner“ meinten einfach, den Jungen, die da aufmüpfig werden, hat man ein paar auf die Mütze zu geben, und wenn das nicht hilft, dann sollen die doch in den Ostsektor gehen. Die Polizei selbst war am Ende ihrer Weisheit. Die war ja nur darauf eingerichtet, Gewalt mit Gewalt zu begegnen. In dieser Situation wurde einer mit neuen Ideen von außerhalb gehört.

In Berlin gab es eine explosive Lage. Am 2. Juni 1967 hatte ein Polizist einen Demonstranten erschossen. „Jubelperser“ hatten auf andere Demonstranten eingeknüppelt, und die Polizei hatte tatenlos zugesehen. Am Gründonnerstag 1968 gab es das Attentat auf Dutschke.

Ja, die Polizei war in Festungsmentalität erstarrt, der Apparat mental militarisiert. Was ich übernahm, war ein 24-Stunden-Job. Zudem unter der totalen Oberhoheit der Alliierten. Das wussten die meisten gar nicht so. Und ich hatte vorher auch nicht bedacht, dass ich außer dem Senat die drei alliierten Stadtkommandanten West vor der Nase hatte, die ihrerseits auf der Grundlage des Viererrechts arbeiten, der Kommandantura. Also, ich war erstmal für zwei Jahre der teuerste Verwaltungslehrling Berlins. Um überhaupt alles kennen zu lernen. Ich hatte 22 000 Mitarbeiter.

Die Aufgabe war, die Polizei in ihrem Bild nach außen zu verändern und nach innen.

Für mich war klar: Wirkung nach außen erziele ich nur, wenn ich die Polizei im Inneren verändere. Und der Kern der Polizei war für mich der Wachtmeister. Wenn der sich selbst als Demokrat empfindet, kann er auch seinen Kopf hinhalten für den Kampf um die Demokratie. Wenn nicht, wird das alles nichts. Ich musste also diese Festungshaltung noch aus der Weimarer Republik aufweichen. Da glaubte die Polizei auch, sie müsse sich kampfmäßig durchsetzen gegen Feinde des Staates auf der Straße. Die waren mit Maschinengewehren ausgerüstet und am 1. Mai gab es Tote, weil die Polizei schoss – das musste aus den Köpfen erstmal raus. Es war aber auch in den Köpfen drin dank der Betriebskampfgruppen im Ostsektor, gegen die man im Westen die Bereitschaftspolizei eingerichtet hatte. Ziemlich paramilitärisch. Dafür hatte man aus dem ehemaligen Regiment Hermann Göring ein paar Offiziere herangeholt, die waren von Polizei unbeleckt und haben ein strammes Heer aufgebaut. Solche Gedanken waren mir natürlich fremd.

Dagegen haben Sie 1974 die Polizeireform gesetzt.

Das war sehr schwer! Ob sich der ganze Führungskader von einem, der da frisch von West-Deutschland herübergeschneit kommt, überhaupt etwas sagen lässt? Ich habe darauf gesetzt, dass ich selbst 1949 bei der Berliner Polizei als Wachtmeister die Straßen plattgetreten hatte. Also die Mentalität des Wachtmeisters kannte. Mir konnte keiner vorhalten, als blutiger Laie daherzukommen. Ich kannte das von innen. Ich hatte nach eineinhalb Monaten den ersten großen Einsatz, den Nixon-Besuch. Der fuhr über den Kurfürstendamm und stieg da auch noch aus und ließ sich bejubeln. Wir sind mehrere Tode gestorben, ob er lebendig wieder ins Auto kommt. Aber den Einsatz haben wir gut bewältigt, weil die Führung gut mit mir zusammenarbeitete. Aber es gab weiter diesen vorauseilenden Gehorsam. Den gibt’s immer noch, nicht nur bei der Polizei. Und den wollte ich ausschalten. Ich wagte, sofort die Polizeidienstvorschrift Nr.1 zu ändern. Ich habe den Satz: „Das Gespräch mit dem Publikum ist auf das Notwendigste zu beschränken“, einfach umgedreht: „Das Gespräch mit dem Bürger ist zu suchen.“ Das war für die Führungskräfte total revolutionär. Sie gingen aber mit. Ab da habe ich Schritt für Schritt klarzumachen geschafft, dass man Gewalt nicht mit Gewalt niederringen kann. Man kann und muss sie auch unterlaufen.

Konfliktscheu waren Sie nie. Sie fanden auch, dass die Polizei Konflikte aushalten lernen muss.

Wenn sich große Straßenschlachten ankündigten, hieß es bei Politikern immer: Es darf um Gottes willen keine Konflikte geben, denn die böse Presse rechnet uns das am nächsten Tag alles vor. Und ich habe immer gesagt: „Wir sind dazu da, Konflikte austragungsfähig zu machen. Ich schöpfe, soweit ich kann, die Gewalt daraus ab.“ Und Gewalt abschöpfen hieß auch, diejenigen festzunehmen, die sich nicht selbst in die erste Reihe stellen, aber den Mob mobilisieren. Denn der ist immer dabei und hat seinen Spaß, das ist heute noch am 1. Mai so. Egal um was es geht, „Bullenklatschen“ ist eine Art Sport. Und ich musste den Polizisten im Einsatz immer wieder klarmachen: Eine Straßenschlacht, die die Polizei gewinnt, hat die Demokratie verloren. Das war schwer zu begreifen. Aber ich hatte das Glück, dass einige junge Einsatzführer das schnell begriffen. Die Älteren nicht. Wenn mal wieder eine Straßenschlacht „Null zu Null“ ausgegangen war, sagten die: „Herr Präsident, lassen Sie uns da mal ran, und in vierzehn Tagen is hier alles vorbei.“ Gegen diese Haltung musste man durchhalten. Bei den Hausbesetzungen später hat sich das nochmal verschärft. Denn Gewalt ist die größte Seuche, die es gibt.

Die Polizeireform ab 1974 sollte diese Philosophie deutlich machen und den Horizont der Polizei erweitern.

Ja, darauf sollte es hinausgehen. Frauen durften wieder als Schutzpolizistinnen auf die Straße, die Gründung der Fachhochschule bedeutete die Öffnung der gesamten Kriminalpolizei für Frauen. Es gab sogar neue Uniformen. Ich wollte aber nicht nur eine Reform der Strukturen. Die war nur notwendig, um aus dem Mitarbeiter einen Mitdenker zu machen: Jedem Einzelnen sein Maß an Verantwortung zuzuteilen, weil das allein die Motivation schafft. Ich wollte vor allem die Köpfe freimachen. Und ich habe immer gesagt: Diese Reform ist Aufbruch. Wir werden nie wieder Ruhe haben, wenn wir jetzt anfangen zu denken. Aber wenn wir aufhören zu denken, ist die Reform in Gefahr. Mir ging es um die Befreiung aus den Netzen von Befehlen und Gehorchen. Befehlen und Gehorchen war mir ohnehin zuwider.

Wenn man Ihren Namen im Internet eingibt, findet man heute noch linke Hasstiraden. Sind Sie ein rotes Tuch für Linke?

Ja, ganz bestimmt. Und man kann seinen Gegnern nichts Schlimmeres antun, als ihnen Recht zu geben. Ich habe versucht, sie zu verstehen. Ich hatte diese neue Unruhe der Jugend in der Welt schon in Bonn gesehen, die Aufstände in Paris, in Berkeley und so weiter. Damals galt ich als Spinner, weil ich über Sachen reden wollte, die es angeblich nicht gab. Und ich kam nach Berlin mit der Frage: Woher kommt diese Unruhe? Ich gehöre ja zur Generation des Wiederaufbaus, aber ich war der Meinung, dass der zu hastig war. Wir hatten einen Wohlstand aufgebaut, und der führte nicht weiter. Danach kam der Verteilerstaat. Aber wir waren noch satt und zufrieden, und als dann die Jungen rund um die Welt aufmüpfig wurden, haben wir uns gestört gefühlt.

Und dabei kam diese Generation selbst mit dieser Freiheit nicht klar?

Ja, genau. Wir hätten erkennen müssen, dass wir im Wohlstand erstarrt waren, dass es so nicht weiterging. Die Jungen erkannten das. Das war mir früh klar. Aber man darf auch den weltpolitischen Hintergrund nicht vergessen, gerade in West-Berlin. Als sie dann mit Vietnam kamen, hat der „alte West-Berliner“ nur noch gesagt: „Was soll das denn? Lasst uns in Ruhe.“ Bei großen Straßeneinsätzen standen hinter den Polizisten Bürger und brüllten: „Nun haut doch endlich zu! Seid nicht so feige.“ Vor ihnen Demonstranten, und dazwischen musste der junge Polizist, dessen Kopf ich gerade freigemacht hatte, begreifen, dass das nicht der Moment zum Zuschlagen ist, sondern der Moment, wie ein Fels die Brandung abtropfen zu lassen. Und gleichzeitig die tatsächlichen Straftäter rauslösen. Denn wer den Stein in die Hand nimmt, ist ein Landfriedensbrecher und kein Demonstrant mehr. Demonstranten sind im höchsten Maß zu schützen. Ohne Demonstrationsfreiheit und die Freiheit der Rede ist sowieso alles zu Ende.

Sie sind am 26. Februar 1987 mit knapp 63 Jahren in Pension gegangen. Zur Ruhe gesetzt haben Sie sich aber nicht.

Nee, wenn man unruhig geboren worden ist, wird man es wohl auch bleiben. Ich wollte schon immer aufschreiben, was in meiner Amtszeit alles passiert ist. Aber wenn man nachts um eins den Griffel fallen lässt, hat man dafür keine Muße. Kurz nach der Pensionierung traf ich einen Verleger wieder, der mich früher schon animieren wollte. So kam mein Buch „Einsatz“ zustande. Danach bin ich dem Leben von Emil Winkler nachgegangen, einem meiner Vorgänger in der Polizeigewerkschaft. Der war dafür im KZ Berlin-Tempelhof brutal erschlagen worden. Ich wollte damit daran erinnern, dass es auch hier in Berlin ein KZ gab, am Columbiadamm, in dem viele umgebracht worden sind. Jetzt beschäftige ich mich mit dem Schwanitz-Papier. Schwanitz war Generalleutnant beim MfS. Der hatte noch in den achtziger Jahren für West-Berlin eine Aufstellung gemacht, wo und wie die Führungspersönlichkeiten des Westens zu internieren sind. Deswegen macht es mich wütend, dass nun die Erben der Partei, die uns abmurksen wollte, jetzt im Rathaus sitzen. Ich hoffe, ich werde alt genug, um zu erleben, dass die wieder rausgefegt werden.

Ehemalige Mitarbeiter sagen heute, Ihre Reform sei als einzige gelungen, weil sie eine Reform in den Köpfen war. Darauf kann man doch stolz sein – oder?

Ich habe der DDR eine Sache wirklich richtig übel genommen, nämlich dass die ihre Polizei Volkspolizei genannt haben. Ich wollte die Volks-Polizei haben, die Polizei des Volkes. Als ich kam, stand die Polizei dem Volk gegenüber. Und ich habe gesagt: Nein, ihr steht mittendrin! Wenn sich das durchgesetzt hat, kann ich eigentlich sehr zufrieden sein.

Das Gespräch führte Pieke Biermann.

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