70. Jahrestag der Urteile im Nürnberger Prozess: "Befehl wird als Entschuldigung nicht anerkannt"
Vor genau 70 Jahren wurden im Nürnberger Prozess die Urteile gegen die Hauptkriegsverbrecher gesprochen. Tagesspiegel-Korrespondent Walter Gong berichtete damals über die Atmosphäre im Gerichtssaal.
Der Prozess setzte Maßstäbe für das internationale Recht, nachdem der nationalsozialistische Terror die Welt mit maßlosem Unrecht überzogen hatte. Mit dem Nürnberger Prozess gegen die überlebenden Hauptverantwortlichen für Angriffskrieg und Völkermord in deutschem Namen wollten die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs ein Exempel statuieren. Die Richter sollten gleichsam als Stellvertreter für die Gemeinschaft der zivilisierten Völker sprechen - und Zeugnis ablegen, dass die Weltjustiz über die Barbarei triumphiert.
Nach neun Monaten Verhandlung fällte das Militärtribunal am 30. September und 1. Oktober 1946 die Urteile: Zwölf Angeklagte, darunter Hermann Göring, Wilhelm Keitel, Joachim von Ribbentrop, erhielten die Todesstrafe, drei Angeklagte wurden zu lebenslanger Haft und vier zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
"Hier wird Geschichte in eine Form gebracht, die es ermöglichen soll, ihren künftigen Lauf von den Gesetzen allgemeiner Moral und Menschlichkeit bestimmen zu lassen", schrieb der Reporter Walter Gong, der als "Sonder-Korrespondent" des Tagesspiegels über die letzten Tage des Prozesses berichtete. Sein Bericht "Der Eindruck aus dem Gerichtssaal" erschien in der Ausgabe vom 1. Oktober 1946. Zum 70. Jahrestag der Urteile veröffentlichen wir den Beitrag im Wortlaut.
WG. Nürnberg, 30. September. Es war selbst für die Pressevertreter, denen die Nürnberger Atmosphäre zur Gewohnheit geworden war, heute ein erregendes Erlebnis, an der Sitzung teilzunehmen, deren erstes Ergebnis berechtigtes Aufsehen hervorrief. Der Ansturm der Journalisten aus allen Ländern und Zonen hatte schon Tage vorher eingesetzt. Die Umgebung des Gerichtshofes veränderte sich über Nacht. Geheime Maßnahmen zur Sicherung waren getroffen worden, vor denen selbst jene einen Augenblick ratlos verharrten, die als Besitzer der gelben Gerichtsausweise von den Neuankömmlingen offen beneidet-werden. Panzerspähwagen sperrten die Wege, zum Gericht. Mündungen ragten drohend in den Himmel. Besondere Ausweise, nur für die Dauer einer Sitzung gültig, und eine zwar liebenswürdig und scherzhaft, aber doch äußerst gründlich durchgeführte Leibesvisitation verschafften den Zugang zum Gerichtssaal, der sich schon lange vor der üblichen Zeit füllte. Die Pressetribüne war längst bis auf den letzten Platz besetzt, als im glasumfriedeten Dolmetscherstand noch immer einsam die gefüllten Wassergläser funkelten. Langsam und in kleinen Gruppen begaben sich dann die Anklagevertreter zu ihren Sitzen.
Von Schirach wirkte ausgeruht, Göring gequält
Die Angeklagten erschienen einzeln. Als erste nahmen, sich steif begrüßend und sogleich in die bei ihnen übliche Starre verfallend, Raeder und Dönitz ihre Plätze ein. Dann folgte Baldur von Schirach, der einen sehr ausgeruhten Eindruck machte. Diese drei saßen längere Zeit vereinsamt auf der Anklagebank. Dann kam Schacht und baute sich, grimmig wie immer, in seiner Ecke der „splendid isolation“ auf. Speer schüttelte im Vorbeigehen einigen die Hand, Neurath ignorierte alles und jeden, Göring erschien mit der bei ihm bekannten forcierten Miene, die aber heute doch sehr gequält aussah. Er wirkte bleich und erregt. Heß wandelte als einer der letzten mit langsamen, weitausgreifenden Schritten - wie ein Schlafwandler würde sein „Führer“ gesagt haben - seinem Platze zu und versank sofort in Teilnahmslosigkeit, in der er während der ganzen Verhandlung verharrte. Er setzte nicht einmal die Kopfhörer auf. Ribbentrop wirkte ungewöhnlich zerzaust, fahrig und außerordentlich nervös.
Die Spannung im Saal steigt, als die Richter eintreten, und Lordrichter Lawrence mit seiner ernsten Grazie und Sachlichkeit nach kurzer Verbeugung zum Gerichtssaal die Verhandlung mit den dürren Worten eröffnet, das Gericht werde jetzt die Urteilsbegründung verlesen, werde jedoch weder den Titel noch den offiziellen Einleitungsteil in die Verlesung einbeziehen. Was er nicht erwähnt, wissen alle, die seine Art der Verhandlungsführung, kennen - nämlich, daß er diese Weglassung aus Gründen der Zeitersparnis beschlossen hat. In dieser kurzen Feststellung liegt wiederum der Geist des Nürnberger Gerichtshofes - Sachlichkeit und Abneigung gegen jeden entbehrlichen Schnörkel.
Die Dramatik des Augenblicks ist allen bewusst
So beginnt die Verlesung eines geschichtlichen Urteils mit der gleichen ruhigen Zurückhaltung und Knappheit, wie das ganze Verfahren seit zehn Monaten geführt wurde. Auch diese Sitzung hat keine Sensationen, wenn man sie in Akzenten, in betonten Gesten oder in dramatischen Affekten suchen sollte. Die Dramatik des Augenblickes ist nichtsdestoweniger allen bewußt: Hier wird Geschichte in eine Form gebracht, die es ermöglichen soll, ihren künftigen Lauf von den Gesetzen allgemeiner Moral und Menschlichkeit bestimmen zu lassen. Das Gericht spricht dies auch aus, als es erklärt, die Einwände der Verteidigung gegen die Zuständigkeit des Gerichtshofes - Einwände, die sich auf den Grundsatz „nulla poena sine lege“ stützten - könnten nicht anerkannt werden. Und nun folgen in einer sachlich trockenen Verlesung, in der sich die Richter der einzelnen Nationen ablösen, Definitionen von größter politischer und rechtlicher Bedeutung.
Der Angriffskrieg als potenziertes Kriegsverbrechen
Der Angriffskrieg wird hier zum potenzierten Kriegsverbrechen erklärt: „Der Krieg ist seinem Wesen nach ein Übel. Die Entfesselung eines Angriffskrieges aber ist nicht nur ein internationales Verbrechen, es ist das überhaupt größte Verbrechen, das sich nur dadurch von allen andern Kriegsverbrechen unterscheidet, daß es alle Schrecken in sich vereinigt.“ Die bis jetzt gültige Lehre der Unverletzbarkeit von Staatsoberhäuptern in Fällen, wo ein Staat das internationale Recht verletzt, wird mit kurzen Begründungen zertrümmert: So wie seit langen Jahren Militärgerichtshöfe Einzelpersonen aburteilen durften, die sich Vergehen gegen die Haager Konvention schuldig gemacht hatten, so werden nunmehr auch Mitglieder von Regierungen, die sich in einem ähnlichen Sinne vergehen, vor Gericht gestellt und abgeurteilt werden. Das Argument aller höheren und niedrigeren Helfershelfer der Hitlerverbrecher, sie hätten auf "höheren Befehl" gehandelt - ein, weiß Gott, sehr deutsch-soldatisches Argument - wird nicht als Entschuldigung anerkannt. Die Welt fordert die Einzelverantwortung.
Die Taten des "Dritten Reiches" wirken gespenstisch
Und nun folgt nach einer Darstellung der Geschichte des Urteils und nach grundsätzlichen Deklarationen über die Begründung der Urteilsfindung ein in seiner Gründlichkeit und sachlichen Kürze unübertrefflicher instruktiver Rückblick in die Geschichte des „Dritten Reiches“ und seiner „Taten“. Wir gestehen, daß wir gebannt lauschten, denn noch nie hätte man in solch gedrängter Zusammenfassung, in solch kristallklarer Form Gelegenheit, alles noch einmal an sich vorüberziehen zu lassen, was seit 1933 geschah - ja, sogar was vor 1933 geschah, warum und wie es geschah. Es klang uns, die wir doch all diese Tatsachen aus eigener leiderfüllter Erfahrung kannten, wie eine Erzählung aus einer anderen Welt - so gespenstisch wirkte die trockene Aufzählung von Tatsachen, die eine Welt an den Rand des Unterganges brachte. Und doch ist es, was wir sehr gut wissen, unsere eigene Geschalte, nur zusammengedrängt in einem kurzen retrospektiven Unterricht, der selbst die Angeklagten in einen hypnotischen Bann zu schlagen schien.
Heß bricht zusammen und wird aus dem Saal geführt
Wie erstarrt sitzen sie, die an all diesen Ereignissen beteiligt waren, vor ihren Richtern, und kaum eine Regung geht durch die Bank. Nur einmal bemerkt man Unruhe, und das ist, weil sich die MP-Wachen ablösen und Kaltenbrunner von seinem Klappsitz aufstehen muß, um Platz zu machen. Später am Nachmittag wandelt sich plötzlich die Teilnahmslosigkeit des Angeklagten Heß. Nervös reibt er sich mit der Hand die Stirne. Es sieht fast aus, als bemühe er sich krampfhaft, seinen entfliehenden Verstand zurückzuhalten. Schließlich beginnt er hin und her zu schwanken, und kurz nach drei Uhr knickt er für eine Stunde zusammen. Er muß aus dem Saal geführt werden. Die Blicke der anderen Angeklagten folgen ihm, und man weiß nicht, spricht aus ihnen Neid oder Bedauern. Minuten nur währt die Unterbrechung, dann wird die Sitzung fortgesetzt und verläuft ohne weitere Störung.
Lesen Sie zum Ende des Nürnberger Prozesses auch den Leitartikel vom 1. Oktober 1946 von Tagesspiegel-Mitbegründer Erik Reger.
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Weitere Meldungen vom Prozesstag in der Tagesspiegel-Ausgabe
vom 1. Oktober 1946:
Die Angeklagten während der Verhandlung
Sämtliche Angeklagten folgten der Verlesung der Urteilsbegründung mit größter Aufmerksamkeit mit Ausnahme von Rudolf Heß, der ohne Kopfhörer da saß und sich anscheinend Notizen machte. Hermann Göring, der während der früheren Verhandlungen immer ein überlegenes Lächeln gezeigt hatte, machte einen besonders ernsten Eindruck. Schacht stand abseits von den anderen und zeigte ein gekränktes Aussehen.
Heß musste den Gerichtssaal verlassen
Der Angeklagte Rudolf Heß bekam am Montagnachmittag Unterleibskrämpfe und mußte den Gerichtssaal verlassen. Das Gericht zitierte bei der Verlesung des Memorandums über die Verbrechen des Hitlerregimes gerade die Ausführungen über die KZ-Greuel, als Heß einen Anfall bekam.
Überprüfung der Verteidiger?
Die Kölner Anwaltskammer hat den Vorschlag gemacht, die Verteidiger der Nürnberger Angeklagten und der sechs Organisationen nach Beendigung des Verfahrens hinsichtlich ihrer Verteidigungsführung einer politischen Untersuchung zu unterziehen. Wie Rechtsanwalt Dr. Wilke, der Geschäftsführer der Kölner Anwaltskammer, dazu mitteilte, wurde dieser Vorschlag in einer Sitzung der Kölner Kammer besprochen. Er soll auf einer Tagung aller Anwaltskammern der britischen Zone verhandelt werden. Dr. Wilke erklärte ferner, daß ein endgültiger Beschluß erst nach der Nürnberger Urteilsverkündung gefaßt werden würde. Dieser Vorschlag wurde auf Grund zahlreicher Zuschriften gemacht, in denen die Tätigkeit der »Anwälte in Nürnberg als nationalsozialistisch bezeichnet wurde. Das Generalsekretariat des Internationalen Militärtribunals verwies zu diesen Absichten der Kölner Anwaltskammer auf eine Erklärung von Lordrichter Lawrence vom 31. August dieses Jahres, die lautete: „Der Gerichtshof wurde davon in Kenntnis gesetzt, daß die Anwälte der Verteidigung Drohbriefe von Deutschen erhalten haben, die ihr Verhalten als Verteidiger bei diesem Prozeß als ungebührlich kritisieren. Der Gerichtshof wird die Verteidiger - soweit es nötig ist und solange der Gerichtshof tagt - schützen und hat keinen Zweifel daran, daß danach der Kontrollrat sie gegen derartige Angriffe schützten wird.
Nach Ansicht des Gerichtshofes haben die Verteidiger eine wichtige öffentliche Aufgabe in Übereinstimmung mit den hohen Traditionen des Juristenberufes ausgeübt, und der Gerichtshof dankt ihnen für ihre Mithilfe." Zusätzlich betonte das Generalsekretariat noch einmal ausdrücklich, daß die Verteidiger nach Abschluß des Prozesses unter dem Schutze des Alliierten Kontrollrates stehen würden und daß die Rechtsabteilung der Militärregierung die Interessen der Verteidiger auch später vertreten werde, falls ihnen im Zusammenhang mit dem Nürnberger Prozeß Schwierigkeiten erwachsen würden.
Walter Gong