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Berlin: Autobahn unterm Bett

Die „Schlange“ ist 25 Jahre alt

Sergej Chmelnitzki stand wie vom Donner gerührt da, als ihn die Wohnungssuche mit seiner Frau 1980 eher zufällig in die Schlangenbader Straße führte. „Das ist ein Zeichen von oben“, rief Chmelnitzki. In der Sowjetunion hatte der Architekt und Kunsthistoriker bereits über das Bauprojekt gelesen, hatte den Artikel begeistert seinen Studenten am Polytechnischen Institut in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe gezeigt. Und nun, Jahre später, stand Chmelnitzki vor diesem erstaunlichen Bau. Da gab es nichts mehr zu überlegen. „Wir haben es auch nie bereut, hier gelandet zu sein“, erzählt seine Witwe Viktoria Chmelnitzki.

Das hört man oft dieser Tage, zum 25. Jubiläum der „Schlange“. Was schon erstaunlich ist, denn das „AutobahnHaus“ in Wilmersdorf ist ein Koloss mit 1700 Wohnungen und rund 6000 Bewohnern. Internationale Berühmtheit erlangte das Projekt aber vermutlich aus einem anderen Grund: Durch das Innere des Hauses – genauer durch den zweiten und dritten Stock – führt auf rund 600 Metern die Autobahn. Die Schlange ist ein Kind des alten West-Berlin. Das deutsche Vorzeigestück für das „Recycling innerstädtischer Verkehrsflächen“ entstand, als Wohnraum knapp war. Bis heute hat die Autobahnüberbauung aber keine Nachahmung gefunden.

25 Jahre ist es her, dass die ersten 5000 Mieter in die Schlange zogen. Gestern haben die Anwohner das Jubiläum mit einem großen Fest gefeiert. Viktoria Chmelnitzki gehört zu den ersten Mietern – und den größten Fans. Denn hier stimmt alles, schwärmt sie: die Lage, der Wohnungszuschnitt, die Bauqualität… „Und diese Ruhe!“ Nicht einmal ihre befreundeten Nachbarn, über deren Wohnung direkt die Autobahn verlief, hätten über Lärm geklagt. Tatsächlich ist von den Autos, die mitten durch das Haus rollen, in den Wohnungen kein Mucks zu hören. Die Schlange war in vielen Dingen ihrer Zeit voraus: beim Schall- und Erschütterungsschutz, der pneumatischen Müllentsorgung und dem Wohnkonzept. Hier gleicht kaum eine Wohnung der anderen: 120 unterschiedliche Typen, von der Einzimmer-Butze bis zur 120 Quadratmeter großen Familienwohnung entstanden auf dem Reißbrett. Die Hälfte der Mieter verfügt in dem sozialen Wohnungsbau über eine Terrasse. Den Mietern in den oberen der insgesamt 14 Stockwerke liegt obendrein die Stadt zu Füßen. Mit Blick auf den Fernsehturm, das Rote Rathaus, den Insulaner.

Die Einmaligkeit hatte ihren Preis: Mit etwa 400 Millionen Mark schlug der Bau zu Buche. Von der Idee, mit der Siedlung schwarze Zahlen zu schreiben, hat man sich vor langem verabschiedet. Dafür erhielt die Siedlung vor drei Jahren den Renault Traffic Award für die Verbindung von Architektur, Wohnen und Verkehr.

Fast 25 Jahre lang hat Viktoria Chmelnitzki mit ihrer Familie über der Autobahn gelebt. Nach dem Tod ihres Mannes im vorigen Jahr ist ihr die Wohnung dann aber doch zu groß geworden. Von ihrem neuen Domizil ein paar Straßen weiter kann sie den Koloss noch sehen. Aber von außen betrachtet, da sind sich selbst die Verehrer einig, ist die Schlange keine Schönheit. kf/sve

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