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Am Donnerstag soll die Kneipe "Meuterei" in der Reichenberger Straße 58 zwangsgeräumt werden.
© Kitty Kleist Heinrich TSP

Räumung der Kneipe „Meuterei“ in Berlin-Kreuzberg: Anwohner:innen kämpfen gegen Gentrifizierung

Kiezgeschäfte, Google-Campus: Im Reichenberger Kiez versuchen Anwohner:innen seit Jahren, sich gegen Investor:innen zu wehren. Nun soll die linke Kollektivkneipe Meuterei geräumt werden. 

Die ganze Stadt ist von Investor:innen besetzt. Nur ein kleiner Kiez in Kreuzberg hört nicht auf, Widerstand zu leisten. Das ist die Geschichte, die Anwohner:innen rund um die Reichenberger Straße gerne erzählen, wenn sie von bisherigen Protesten berichten. 

Das ist auch die Geschichte – nicht zufällig in Anspielung auf zwei berühmte Gallier –, die der Kreuzberger Nachbarschaftschor „Lauratibor“ in einer Protestoper gegen den Ausverkauf der Stadt besingt.

Wenn am kommenden Donnerstag die linke Kneipe „Meuterei“ in der Reichenberger Straße 58 geräumt wird, geht es für Gerichtsvollzieher und Polizei um die Durchsetzung eines juristisch legitimierten Räumungstitels. Für das Kneipenkollektiv und seine Unterstützer:innen geht es hingegen um die Frage, wer über den Kiez bestimmen darf. 

2009 mietete das Meuterei-Kollektiv die Kneipe an, machte daraus eine unkommerzielle Bar mit politischen Veranstaltungen, Filmen, sozialer Beratung, aber auch einen Rückzugsort für all jene Gestrandete, von denen es in Kreuzberg schon immer viele gibt. Fast zeitgleich erlebte der Kiez das, was vielen als Ursprung der aktuellen Protestbewegung gilt: 2009 regte sich breiter Widerstand gegen das sogenannte Carloft in der Liegnitzer/ Ecke Reichenberger Straße, eine Luxusimmobilie, in der die Autos per Aufzug bis in die Wohnung fahren. 

„Da zeigte sich, dass der Kiez relativ rebellisch ist: Über 1000 Leute versammelten sich ohne Ankündigung und protestierten, weil sie so etwas einfach nicht für passend in einem gewachsenen Kiez hielten“, erinnert sich Anwohner Stefan Klein, der einige Jahre später die Kiezinitiative „GloReiche“ mitgründete. Immer wieder gab es in den kommenden Monaten Angriffe auf das Carloft, Farbbeutel flogen, Scheiben wurden eingeworfen. 

Dabei galt der Kiez zwischen Görlitzer Park und Landwehrkanal lange als Schmuddelecke, auch aufgrund seiner Nähe zum ehemaligen Mauerstreifen. „Früher wollte hier niemand hin“, sagt Stefan Klein. „Im Laufe der Zeit ist im Reichenberger Kiez dann aber etwas sehr Angenehmes, eine gewachsene Struktur mit kleinen Geschäften und der berühmten Kreuzberger Mischung, entstanden“, sagt er. 

2011 wurde das Haus in der Reichenberger Straße 58, das ursprünglich zum angeschlagenen Immobilienimperium des Filmproduzenten Artur Brauner gehörte, an die „Zelos Properties“ des Investors Goran Nenadic weiterverkauft.

2014 setzte das Kollektiv vor Gericht eine Verlängerung des Mietvertrages durch

2014 lief der Mietvertrag der Meuterei das erste Mal aus – in einem Gerichtsprozess bekam das Kollektiv Recht, der Mietvertrag wurde um fünf Jahre verlängert. Dabei berief es sich auf einen Passus im Mietvertrag, wonach dieser einmal automatisch verlängert würde, wenn es kein „zerrüttetes Mietsverhältnis“ gäbe.

Die übrigen Wohnungen in der Reichenberger Straße 58 waren da bereits modernisiert und als Eigentumswohnungen verkauft worden. Bis heute wirbt die Zelos Properties auf ihrer Webseite mit dem „urigen Charme“ des Reichenberger Kiezes, der „guten Nachbarschaft“ und auch dem Reichenberger Kiezfest – das das Meuterei-Kollektiv einst mit ins Leben gerufen hatte.

Rund um den Reichenberger Kiez mehrten sich in diesen Jahren die Protestaktionen. Im Sommer 2015 verhinderten Anwohner:innen durch breiten Protest die Kündigung des Gemüseladens „Bizim Bakkal“ im benachbarten Wrangelkiez. Auch wenn der Laden ein halbes Jahr später doch schließen musste – für den Mythos spielte das keine Rolle. Er wurde zum Symbol für die Möglichkeit, sich gegen die Gentrifizierung zu wehren. Ein Symbol, dem weitere folgen sollten.

2017 gründete sich die Initiative GloReiche – der Name steht für die Kreuzung Glogauer/ Ecke Reichenberger Straße – und verhinderte die Kündigung der Kiezbäckerei „Filou“ in der Reichenberger Straße 86. Später politisierte der Kampf um die geplante Ansiedlung des Google-Campus die Nachbarschaft, 2018 wurde das ehemalige Umspannwerk in der Ohlauer Straße kurzzeitig besetzt. Wieder war der Protest erfolgreich, Google knickte vorerst ein, nun arbeiten soziale Initiativen in dem Gebäude.

Das Gefühl, dass vieles verloren geht

In den vergangenen vier Jahren habe sich die Initiative GloReiche für 15 bedrohte Projekte und Mietergemeinschaften eingesetzt, erzählt Mitbegründer Stefan Klein. Er berichtet von massiven Mietsteigerungen, von Eigenbedarfskündigungen und von dem Gefühl, dass vieles im Kiez einfach unwiederbringlich verloren geht. Auch die Gewerbehöfe in der Lausitzer Straße 10/11 und das Wagenburg- und Werkstattkollektiv in der Ratiborstraße 14, die zusammen den Protestchor Lauratibor begründet haben, kämpfen seit Jahren gegen eine mögliche Verdrängung.

Und nun die Meuterei. „Die Meuterei war einer dieser typischen Orte hier, die eine bestimmte Nische sehr gut bedient haben, einfach ein Ort waren, wo man eine ganze Weile sein kann. Gleichzeitig waren die hier immer absolut engagiert“, sagt Stefan Klein, und ergänzt: „Das ist wirklich zutiefst zu bedauern.“

In der Reichenberger Straße wurde am 14. März gegen die Räumung der Kneipe "Meuterei" demonstriert.
In der Reichenberger Straße wurde am 14. März gegen die Räumung der Kneipe "Meuterei" demonstriert.
© Madlen Haarbach

Der Mietvertrag der Meuterei lief im Juni 2019 endgültig aus. Das Kollektiv gab den Schlüssel nicht zurück und ließ es auf einen Räumungsprozess ankommen. „Wir wollten zeigen: Nur weil ein Gericht entscheidet, dass der Eigentümer Recht bekommt, heißt das aus unserer Sicht nicht, dass das richtig ist“, sagt Leonie vom Meuterei-Kollektiv, zu dem etwa zehn Menschen in wechselnder Konstellation gehören. Bei mehreren Gesprächen habe der Eigentümer, Goran Nenadic, deutlich gemacht, dass er den Mietvertrag auf keinen Fall verlängern wolle.

Der Investor bot die Kneipe zum Kauf an – für 750.000 Euro

Stattdessen bot er den Kauf der Räume an – für, laut Aussage des Kneipenkollektivs, am Ende 750.000 Euro. „Es ist nicht möglich, den Raum für 750.000 Euro zu kaufen und da dann wirtschaftlich gesehen weiterhin die Meuterei bestehen zu lassen, das geht gar nicht“, sagt Heiko vom Meuterei-Kollektiv. Auf ein Gegenangebot, die Meuterei für rund die Hälfte des vorgeschlagenen Kaufpreises zu erwerben, sei Nenadic nicht eingegangen. Eine entsprechende Anfrage des Tagesspiegels ließ der Investor auch nach mehreren Tagen unbeantwortet.

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Nach mehreren coronabedingten Verzögerungen erließ das Berliner Landgericht im Juni 2020 einen Räumungstitel für die Kneipe, den der Eigentümer nun einlöst. Am 25. März soll um 8 Uhr geräumt werden. Bereits ab 6 Uhr ruft das Kneipenkollektiv zu „dezentralen Aktionen“ im gesamten Stadtgebiet und in der Reichenberger Straße auf.

Autonome demonstrieren gegen Räumungen auch in der Rigaer Straße

Auch die Polizei bereitet sich auf die Räumung und mögliche Aktionen im Vorfeld vor. Wie genau der Einsatz aussehen soll, ist bislang nicht bekannt. Vorsorglich riegelt die Polizei – wie auch zuletzt bei anderen Räumungen – die Straße rund um die Kneipe weiträumig ab, auch Kundgebungen werden in der unmittelbaren Nachbarschaft nicht genehmigt.

Vor allem eine Demonstration, die für den Abend des 23. März angekündigt ist, dürfte im Fokus der Einsatzkräfte stehen. Unterstützer:innen und Autonome wollen an diesem Abend vom Reichenberger Kiez in die Rigaer Straße ziehen, gewissermaßen von einem widerständigen Kiez in einen anderen. Das Motto: „Jede Räumung zum Desaster machen“. Die Demo will gleichzeitig auch für den Erhalt des autonomen Hausprojektes „Rigaer 94“ in Friedrichshain protestieren.

Die Meuterei und die Rigaer 94 sind nur zwei von mehreren linken Projekten, die in den vergangenen Monaten geräumt wurden oder sich aktuell von einer möglichen Räumung bedroht sehen. Zuletzt wurden im vergangenen Jahr die Kollektivkneipe „Syndikat“ in Neukölln und das selbsterklärte anarchaqueerfeministische Hausprojekt „Liebig 34“ in Friedrichshain geräumt. Gegen den Jugendclub „Potse“ in Schöneberg liegt aktuell ein Räumungstitel vor, gegen die „Köpi Wagenburg“ in Mitte soll demnächst der Räumungsprozess starten. 

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In einem offenen Brief an den Innensenat droht eine Gruppierung, die sich „129 Autonome“ nennt: „Sollte der Berliner Senat eines der bedrohten Projekte angreifen oder räumen lassen, werden wir das nicht unbeantwortet lassen.“ Vielleicht würden Steine auf Luxusneubauten fliegen, vielleicht würden Autos brennen oder auch der Flughafen attackiert, heißt es zu möglichen Aktionen. 

„Jede Räumung hat ihren Preis – neben einem materiellen auch einen politischen. Sollte der Senat die Politik der Verdrängung fortsetzen, werden wir das Wahljahr ins Chaos stürzen“, heißt es weiter.

Zu gewalttätigen Aktionen ruft das Meuterei-Kollektiv nicht explizit auf. Gleichzeitig wolle man sich aber auch von keiner Aktion distanzieren. „Es gibt verschiedene Arten und Weisen der Trauerbewältigung“, sagt Heiko. Und Leonie ergänzt: „Das ist ein bisschen ein Irrglaube: Nur weil man uns den Raum wegnimmt heißt das ja nicht, dass unser Kampf im Kiez aufhört.“ Das Kollektiv wolle weiter stadtpolitisch tätig sein, gerade auch im Reichenberger Kiez. Und die Anwohner:innen im selbsterklärten Dorf der Unbeugsamen suchen weiter nach dem Zaubertrank, der Kreuzberg vor der Gentrifizierung schützen soll.

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