Von Potsdam ins Kanzleramt?: Annalena Baerbock im Wahlkreis-Duell knapp vor Olaf Scholz
In Deutschland gab es das noch nie: Zwei Kanzlerkandidaten im selben Wahlkreis. Baerbock oder Scholz, wer hat die besseren Chancen in Potsdam? Eine Analyse.
Das Duell der Duelle ist eröffnet: Zur Bundestagwahl tritt im Potsdamer Wahlkreis 61 die erste Kanzlerkandidatin der Grünen gegen den Kanzlerkandidaten SPD an. Das steht mit der Entscheidung der Grünen für Annalena Baerbock als ihre Spitzenkandidatin für das Kanzleramt fest. In Potsdam messen sich nun Grünen-Parteichefin Baerbock und Bundesfinanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD).
Für den Wahlkreis 61, zu dem neben der brandenburgischen Landeshauptstadt auch die südlich und östlich gelegenen Speckgürtel-Gemeinden Kleinmachnow, Michendorf, Nuthetal, Schwielowsee, Stahnsdorf und Teltow gehören, dürfte diese in der Geschichte der Bundesrepublik einmalige Konstellation eine enorme bundesweite Aufmerksamkeit bedeuten.
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Baerbock gegen Scholz, sie oder er – das ist auch aus der lokalen Potsdamer Sicht ein hochspannendes Duell. Die 40-Jährige, aufgewachsen auf einem Bauernhof bei Hannover, wohnt mit ihrem Mann Daniel Holefleisch und ihren beiden Töchtern im Grundschulalter seit vielen Jahren in der Nauener Vorstadt. Der 62 Jahre alte Scholz wiederum ist vor drei Jahren in die Berliner Vorstadt gezogen. Der frühere Regierungschef Hamburgs folgte seiner Frau Britta Ernst hierher, der brandenburgischen Bildungsministerin.
Baerbock ist in der Stadt verwurzelt. Sie hat einiges in Potsdam direkt bewegen können, war unter anderem Mitgründerin des Flüchtlingshilfevereins „Hand in Hand“. Und auch wenn sie in der Kommunalpolitik wenig aktiv ist, kennt sie die wichtigen Potsdamer Themen – von den steigenden Mieten bis zum dauerstrittigen Wiederaufbau der Garnisonkirche, für den sie keine neuen öffentlichen Mittel bereitstellen will.
Deutschlandweit die höchste Promidichte
Scholz wiederum kann auf solch langjährige Potsdam-Erfahrung nicht verweisen. Er kann darauf setzen, dass Potsdam keine geschlossene Gesellschaft ist, sondern offen für Neubürger. Scholz hat in den vergangenen Wochen viele Vor-Ort-Termine absolviert, mit der hiesigen SPD, sei es am Wissenschaftspark Golm oder bei Einzelhändlern. Eigentlich hatte Scholz, so hatte er es angekündigt, auf die Marktplätze gehen wollen. Die Corona-Krise macht einen Strich durch die Rechnung, das ist ein Handicap für sein Ankommen in Potsdam und den Wahlkampf.
Prognosen für den Ausgang der Bundestagswahl auf www.election.de zeigen für den Wahlkreis 61 bei den Erststimmen für das Direktmandat nach der Entscheidung der Grünen für Baerbock als Kanzlerkandidatin einen leichten Vorsprung für die Partei.
Zuvor hatte im Wahlkreis 61 Potsdam – Potsdam-Mittelmark II – Teltow-Fläming II, die SPD noch einen leichten Vorsprung vor den Grünen. Die Festlegung der Grünen auf Baerbock hatte also unmittelbare Folgen für die Wählerpräferenz in dem Wahlkreis.
Gleichwohl rechnen sich die Sozialdemokraten gute Chancen aus: Bei der Bundestagswahl vor vier Jahren hatte die damalige SPD-Direktkandidatin und Bundestagsabgeordnete Manja Schüle das einzige Direktmandat für die Genossen im Osten Deutschlands geholt – gegen Saskia Ludwig, die erneut für die CDU antritt und angesichts der Konkurrenz nur noch Außenseiterchancen haben dürfte, zumal die Potsdamer Union seit Monaten mit Grabenkämpfen in den Negativ-Schlagzeilen steht. Nachteilig für die CDU ist auch, dass die Unions-Hochburg Werder (Havel) nicht mehr zum Wahlkreis gehört.
Der hat ohnehin deutschlandweit die wohl höchste Promidichte unter den Kandidaten. Für die FDP tritt im Potsdamer Wahlkreis Linda Teuteberg an, die frühere Generalsekretärin der Liberalen im Bund und Landesvorsitzende. Die Linke schickt erneut den Bundestagsabgeordneten Norbert Müller ins Rennen. Die AfD nominierte im Wahlkreis, in dem Alexander Gauland lebt, den Drehbuchautoren Tim Krause. Für die Piratenpartei will Thomas Bennühr aus Oberhavel antreten. Als Parteiunabhängige hat sich die bundesweit bekannt gewordene Klimaaktivistin Lu Yen Roloff aufgestellt.
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Wie ticken die Landeshauptstadt Brandenburgs und deren Umland politisch? Wie haben sich die Koordinaten verändert, verändern sie sich in diesen unruhigen Zeiten? Es ist so viel im Fluss, so viel in Bewegung, dass alles offen ist. Ein Blick auf die Ergebnisse der Wahlen der vergangenen Jahre lässt auch Rückschlüsse auf das rot-grüne Kanzlerkandidat:innen-Duell zu.
Die Ausgangslage: Die Sozis können als Platzhirsche gelten. Potsdam wird bereits seit 1990 ununterbrochen von SPD-Oberbürgermeistern regiert, Horst Gramlich (bis 1998), dem späteren Brandenburger Ministerpräsidenten Matthias Platzeck (1998 bis 2002), dem aus Ostfriesland stammenden Neu-Potsdamer Jann Jakobs (2002 bis 2018) und seitdem vom Potsdam-Gewächs Mike Schubert.
Die Genossen haben inzwischen die Linken klar abgehängt, denen es in den ersten Jahren nach der Wende noch gelungen war, in der einstigen DDR-Bezirkshauptstadt und früheren SED-Bastion stärkste Kraft im Stadtparlament zu werden. Das ist lange her. Die Landeshauptstadt, mit den landesweit mitgliederstärksten SPD-Ortsvereinen, ist eine Sozi-Hochburg im seit 1990 von sozialdemokratischen Ministerpräsidenten regierten Land.
Zugleich gelten die Potsdamer als offen, auch als weltoffen, als bereit, auch politisch mal einen Vertrauensbonus zu geben: Davon profitierte 2013 etwa die CDU-Politikerin Katharina Reiche, inzwischen Managerin bei einem Energiekonzern, die damals den vorher "roten" Bundestagswahlkreis mit 32,6 Prozent der Erststimmen holte. Doch Reiches Wechsel in die Wirtschaft, mit der das Bundestagsmandat wegen fehlender Nachrücker verfiel, hat die CDU auf lange Sicht in Potsdam Vertrauen gekostet.
Potsdam ist die westlichste Stadt Ostdeutschlands
Die Stadtgesellschaft verändert sich, da Potsdam rasant wächst. Mittlerweile leben gut 182 000 Menschen hier, 1990 waren es noch 139 000. In keine andere ostdeutsche Stadt sind so viele Neu-Bürger aus dem alten Bundesländern gezogen wie hierher: Potsdam ist, auch politisch, die westlichste Stadt in Ostdeutschland.
Womöglich ist das ein Grund, dass eine starke Grün-Drift unverkennbar ist. Bei der letzten Landtagswahl im Herbst 2019 holte die vorher eher unbekannte junge Kandidatin Marie Schäffer in der Landeshauptstadt das erste Direktmandat der Grünen in Brandenburg überhaupt. Die Karte zeigte damals die Brüche in der Mark: Der Westen hatte SPD gewählt, der Osten AfD, in der Mitte Potsdam als grüne Insel. Schäffer nahm der früheren SPD-Generalsekretärin Klare Geywitz den Wahlkreis ab, den diese vorher seit 2004 ununterbrochen gewonnen hatte.
Geywitz, die sich gemeinsam mit Scholz auch vergeblich um die SPD-Bundesspitze beworben hatte, kommentierte den Grünen-Sieg im Wahlkreis damals so: "Potsdam ist ja für dramatische Wahlergebnisse bekannt." Ein Omen für das rot-grüne Duell der Kanzlerkandidaten?
Im Bundestagswahlkreis 61, in dem Baerbock und Scholz miteinander ringen, liegt zudem Kleinmachnow. Höchste Immobilienpreise, oft ein SUV in der Einfahrt - und doch waren die Grünen bei der Kommunalwahl im Mai 2019 stärkste Kraft im Gemeindeparlament geworden, und auch bei der Landtagswahl bekam die Partei die meisten Zweitstimmen in Kleinmachnow, 26,9 Prozent. Jeder Dritte wählt hier schon mal grün.
Man muss nicht gleich große historische Bezüge herstellen, aber auch da gibt es einen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in den Endjahren der Monarchie in Deutschland, galt die Preußenresidenz lange Zeit als "Kaiserwahlkreis". Trotzdem hatte in Potsdam 1912 bei der Reichstagswahl der linke Sozialdemokrat Karl Liebknecht in der damals erzkonservativen Stadt ein Direktmandat geholt.
Sie oder er, Baerbock oder Scholz: Bei der Bundestagswahl 2021 hat Potsdam jetzt gleich doppelte Chancen, Deutschlands "Kanzler:innen-Wahlkreis" zu werden.
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