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Fast am Ziel.
© dpa

Fluchtpunkt Berlin-Brandenburg: Ankunft an Gleis 6

Von Bahnen, Babybrei und Wickeltischen: Tag für Tag halten in Schönefeld die Züge. Ein Besuch am Flüchtlingsbahnhof.

Dieser Bahnsteig ist das erste, was die Flüchtlinge sehen. Ein rundherum verglastes Wartehäuschen steht dort, es brennt noch Licht darin. Auf den braun lackierten Holzbänken sitzt niemand, die Tür ist abgeschlossen. Auch die Schaukästen auf dem Bahnsteig sind leer: keine Werbung, kein Fahrplan, keine Tarifinformation. Der Bahnsteig sieht so aus der Zeit gefallen aus, dass er fast wie eine Kulisse wirkt. Refugees Welcome. Willkommen in Berlin.

Ein einziger Aufkleber prangt bahnrot an der Tür des Wartehäuschens: „Gemeinsam angenehm reisen“ steht darauf. Nun ja. Die 394 Flüchtlinge, die hier heute ankommen, sind gerade 13 Stunden lang gemeinsam in einem Sonderzug gereist, der sie aus Salzburg hierher gebracht hat. Auf der Anzeigetafel steht „S lzburg“. Das „a“ gibt es anscheinend nicht mehr im Buchstabensortiment der Klappanzeige. So wie es eigentlich auch die ganze Bahnhofshalle schon nicht mehr geben sollte. Es war und ist geplant, das Empfangsgebäude abzureißen.

Ehrenamtliche Helfer sind die Konstante

Im Moment kommt hier aber täglich ein Sonderzug mit Flüchtlingen an, erst am gestrigen Sonntag wieder traf ein Zug mit 380 Menschen ein. Wegen seiner freien Kapazitäten und der Bahnsteiglänge wurde der Bahnhof als Ankunfts- und Erstversorgungsstation für Flüchtlinge im Raum Berlin-Brandenburg ausgewählt. An den 420 Metern von Gleis sechs kann auch ein ICE problemlos halten (was bis vor knapp zehn Jahren auch regelmäßig der Fall war). Außerdem spricht die gute Anbindung an die Autobahn A113 für den Flughafen-Bahnhof. Nach der Ankunft sollen Busse die Flüchtlinge so schnell wie möglich in die Unterkünfte bringen, nach Berlin oder auch Brandenburg.

Eigentlich ist die Bahnhofshalle seit einem Jahr geschlossen. Die Rollläden an den Fahrkartenschaltern sind heruntergelassen, die Tür der „Bahnhofsgaststätte Snack und Back“ ist mit Flatterband abgesperrt, die Scheibe einer Tür wird nur noch von gelb-schwarzem Klebeband zusammengehalten. Auf Bahndeutsch heißt dieser Zustand „teilfunktional“. Leitungen, Brandschutz und die bauliche Hülle der Halle seien marode, heißt es bei der Bahn. Immerhin: Die Neonröhren leuchten. Sie surren vernehmlich.

An fast verwaisten Bahnsteigen halten die Züge, in der alten Halle gibt es Brei.
An fast verwaisten Bahnsteigen halten die Züge, in der alten Halle gibt es Brei.
© Susanne Grautmann

Der heutige Einsatzleiter Andrè Burisch vom Katastrophenschutz des Landkreises Dahme-Spreewald meint: „Nicht schön, aber warm und trocken.“ Das trifft es. Draußen ist es mittlerweile kühl, es regnet. Anne Böggering hat das nicht davon abgehalten, aus Weißensee hierher zu kommen. Sie ist seit August fast jeden Tag da. „Ich gehöre hier zum Stammpersonal“, sagt die 53-jährige Freiwillige. Tatsächlich sind die ehrenamtlichen Helfer die größte Konstante an dem Bahnhof. Das Personal der amtlichen Einsatztrupps von Feuerwehr, Polizei, Bundeswehr und Co wechselt dagegen beinahe täglich. „Wir haben alle noch unser Tagesgeschäft“, sagt Burisch.

Hand in Hand mit der Staatsgewalt

Anne Böggering benötigt keinen Einsatzleiter, sie legt sofort los. Baut Wasserflaschen, Obst, Schokoriegel und Seifenblasen auf Tischen auf. Hängt Müllsäcke ein. Schiebt eine Mülltonne aus der Familienecke raus. Dass es hier eine separate Ecke für Familien gibt, war ihre Idee. „Hier kommen auch schwangere Frauen an oder Frauen mit Neugeborenen, die brauchen einen Rückzugsraum“, sagt sie. So gut das eben geht in einer Bahnhofshalle. Als erstes hat sie bei der Feuerwehr einen Tisch bestellt, den man als Wickeltisch nutzen kann. Das haben die Feuerwehrleute auch prompt erledigt. Böggering ist mit ihnen zufrieden.

Als nächstes baut sie einen Tisch mit Babynahrung auf. Sie sortiert die Gläschen nach Lebensmonaten und klebt mit Tesafilm Plastiklöffel daran fest. Sie hat eine ziemlich klare Vorstellung davon, wie die Dinge hier zu laufen haben. Das haben auch die Bundeswehrangehörigen gemerkt. Die Jungs von der Truppe fragen die Freiwilligen, wo hier was hingehört.

Auch die Bundeswehr hilft aus.
Auch die Bundeswehr hilft aus.
© dpa

Mittlerweile sind fünf weitere Unterstützer angekommen, auch sie Helfer der ersten Stunde. Anna Wald ist hier, weil Schönefeld so weit draußen liegt, dass sich nicht viele andere Unterstützer hierhin aufmachen. Dirk Stegemann kommt mit seinem großen roten Banner, auf dem „Refugees Welcome“ steht. Das hat er dabei, wann immer die Flüchtlinge ankommen, ob es vier Uhr morgens oder Mitternacht ist. „Flüchtlinge aufzunehmen bedeutet mehr als Organisation und Verwaltung“, sagt er. Sie sollen spüren, dass sie hier willkommen und sicher sind. So kommt es, dass der ehemalige Hausbesetzer jetzt Hand in Hand mit der Staatsgewalt arbeitet.

Einige wissen nicht, wo sie sind

Zugeständnisse muss hier jeder machen. Das gilt auch für den Mitarbeiter des Gesundheitsamts. Er bemängelt, dass der Wickeltisch nicht den hygienischen Anforderungen entspreche. Die Einmal-Auflagen fehlen. Da hat er aber nicht mit Böggering gerechnet. Sie klärt ihn darüber auf, dass der Wickeltisch alternativlos sei: „Sonst müssen die Kinder hier auf dem Boden gewickelt werden!“. Dazu fällt dem Mitarbeiter des Gesundheitsamtes auch nichts mehr ein. Er zieht ab.

Die Polizei bleibt draußen vor der Tür. Es hat sich gezeigt, dass einige Flüchtlinge aufgrund ihrer Erfahrungen ängstlich auf Uniformierte reagieren. Deswegen reden hauptsächlich die Sprachmittler vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) mit den Flüchtlingen. Sie sprechen die Landessprachen, viele stammen selbst aus den Herkunftsländern der Flüchtlinge. Es ist ihre Aufgabe, die Geflüchteten zu beruhigen und ihre dringlichsten Fragen beantworten. Ein Lageso-Mitarbeiter erzählt, dass einige Flüchtlinge bis zu ihrer Ankunft in Schönefeld nicht einmal wissen, wohin der Zug sie gebracht hat.

Aber noch ist er nicht am Ziel

Als die Flüchtlinge schließlich in die Bahnhofshalle kommen, wirken sie erschöpft, aber zumindest gefasst. Für einen 21-jährigen Syrer, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, ist Deutschland das achte Land, das er erreicht. Seit 15 Tagen ist er auf der Flucht. Auch er hat das Meer zwischen der Türkei und Griechenland in einem viel zu kleinen Boot mit viel zu vielen Menschen an Bord überquert. Er weiß, wie viele Boote es nicht schaffen.

„Ich gehöre wohl zu den Glücklichen“, sagt er auf Englisch. Aber noch ist er nicht am Ziel. Sein Vater ist in die Niederlande geflohen, zu ihm will er. Für den Moment ist seine größte Sorge, dass er in Deutschland bleiben muss, wenn sie ihn hier erst einmal registriert haben.

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