30 Jahre neuer Friedrichstadt-Palast: Am Boulevard der Beine
Seit dem 27. April 1984 will der neue Friedrichstadt-Palast auf Weltniveau glitzern. Früher guckte Erich Honecker streng, jetzt tun es die Hostessen. Ein Streifzug durch drei Jahrzehnte.
Auch am Friedrichstadt-Palast ist die DDR zugrunde gegangen. Sie hat sich das neue Haus geleistet, als sie sich eigentlich gar nichts mehr leisten konnte. Es waren die achtziger Jahre, der ostdeutsche Sozialismus entsprach längst nicht mehr der reinen Lehre, das Land lebte auf Pump, da ließ die Partei- und Staatsführung ihrem Volk an der Berliner Friedrichstraße den teuren Plattenbau errichten, der aussah wie die etwas zu groß geratene Geburtstagstorte eines turkmenischen Alleinherrschers.
Die Eröffnungsvorstellung fand vor 30 Jahren statt, am 27. April 1984, die Staatslenker waren anwesend, über ihren Köpfen schwebte der Moderator in einer goldenen Gondel ein, machte ein paar harmlose Witze über den Sozialismus, die, wäre der Sozialismus intakt gewesen, niemanden gestört hätten. Da die Nerven aber blank lagen, bekam der Moderator Ärger, seine Moderationen wurden aus der Fernsehaufzeichnung herausgeschnitten – wodurch, misst man die Angelegenheit an heutigen Maßstäben, die Aufführung einen Modernitätsschub erleben durfte. Denn moderiert wird längst nicht mehr, Conférenciers gehören einer Vergangenheit an, in der die Shows noch Revue hießen.
Je grauer die DDR, desto bunter strahlte der Tüll
Es währte noch gut fünf Jahre, bis die DDR vollständig am Ende war – aus der Perspektive des Friedrichstadt-Palastes fünf glänzende Jahre. Denn je grauer die Umgebung, desto bunter strahlte der Tüll. So ausverkauft wie damals sollte das Haus nie mehr sein, es gab Anrechtsscheine für den Erwerb von Eintrittskarten, die Schlangen vor den Kassen reichten bis zum Bahnhof Friedrichstraße, die LPG Pflanzenproduktion „Klement Gottwald“, Abt. Lehrausbildung versuchte seit 1984, Karten zu erlangen, was ihr erst für die Vorstellung am 29.1.1987 gelang. Ihr Anliegen hatte sie in einem Brief an den Palast wie folgt begründet: „Das Tagesprogramm konnten wir bisher immer mit hohem Niveau sowie erzieherischen Erlebnissen durchführen. Die Abende wollen wir ebenfalls für bestimmte Veranstaltungen nutzen, damit unsere Jugendlichen nicht den Aufenthalt in Gaststätten suchen.“
Das Verzweiflungsschreiben hat Helga Molling aufgehoben, die dienstälteste Mitarbeiterin überhaupt. Seit 1964 bis zur Schließung des alten Hauses 1980 gehörte sie dem Ballett an, danach dem Besucherdienst, der das knappe Gut der Karten zu verwalten hatte. Sie hat die Zeit nach dem Mauerfall erlebt, als in dem 1900-Plätze-Saal manchmal nur 100 Zuschauer saßen, hat an der Garderobe gearbeitet, an der Kasse und schließlich am Telefon, wo Kartenbestellungen angenommen werden. Da bessert sie noch heute ihre Rente auf und muss immer mal die Eintrittspreise rechtfertigen. In den Achtzigern kostete eine Karte 12 Mark Ost, heute, wenn man nicht ganz am Rand sitzen möchte, 50 Euro aufwärts. „Ich sag dann: Wenn wir die Hälfte der Girls nach Hause schicken, können wir’s billiger machen.“ Aber wie sähe das dann aus mit 16 statt 32 Frauen auf dieser Riesenbühne?
Gut, die Frauen sind größer geworden. Zu Helga Mollings Tänzerinnen-Zeit waren sie noch durchschnittlich 1 Meter 68 groß, heute 1,73. Sie sehen heute auch anders aus. Die Frauen auf den alten Bildern haben Rundungen, die heutigen sind von einer viel geraderen Sorte. Und viel sportlicher sind sie. „Was die heute machen, hätte ich damals nicht gekonnt“, sagt Molling. „Die müssen viel artistischere Sachen machen.“ Aber wenn sie sie so kerzengerade die Showtreppe herabstolzieren sieht, denkt die Frau von der Hotline wehmütig: „Wenn du da noch mitmachen könntest!“ Jede Premiere sieht sie sich an, kommt aus dem Schwärmen nicht raus: „Was die für leichte Stoffe tragen. Wir mit unserer schweren Wäsche damals und Ösen und Stangen in den Kostümen …“
Der Palast wirbt mit lauter Superlativen
Die Vorstellungen sehen selbstverständlich ziemlich anders aus als früher, lasziver, greller, schneller. Es wird so gut wie nicht gesprochen, gesungen wird fast nur auf Englisch, das „Weltniveau“, das die DDR immer erreichen wollte, hier kann man es in seiner glitzerndsten Form betrachten. Die neuen Shows könnten auch in Tokio oder London gezeigt werden, wenn sie dort nur eine so große Bühne und so viele Tänzerinnen mit so langen Beinen hätten (Durchschnittsmaß: 1,05 Meter). Die Zielgruppe und das Ziel, beides hat sich in den 30 Jahren geändert. In den Achtzigern sollte den ostdeutschen Werktätigen gezeigt werden: Seht nur, so schön ist es nur in unserer DDR, schöner kriegen sie’s auch in Paris und New York nicht hin, was wollt ihr also dort? Heute präsentiert der Palast den Besuchern aus Paris und New York und auch Berlin ein Kulturprodukt, das sie allesamt verstehen, denn die Botschaft ist recht schlicht. Sie lautet: Boah! – nein: Wow!
Der Palast wirbt mit lauter Superlativen, die größte Bühne, die meisten Beine, das meiste Wasser, das von der Decke ins Bühnenbassin prasselt. Dennoch laufen während der Vorstellungen zwischen den Stuhlreihen Hostessen auf und ab, und wenn sie irgendwo ein Kamera- oder Handydisplay glimmen sehen, halten sie ein leuchtendes Fotografieren-verboten- Schild nach oben und gucken streng. Soll niemand auf seinem Monitor daheim die Tänzer unscharf finden oder nach Betrachten seines Handyfilms enttäuscht feststellen, dass die Show verwackelt war.
Das ist sie ja wirklich nicht. Die Tänzerinnen recken ihren Kopfschmuck kerzengerade in die Höhe, die Sänger treffen die poppigen Töne, die Artisten verstehen ihr Handwerk. Wer auf Schräges, besonders Originelles aus ist, ist hier falsch.
Das Geld für komfortablere Sitzreihen fehlt bisher
Das kann in einem solchen Riesenhaus kaum anders sein. 1900 teure Karten wollen verkauft werden, die Subvention ist überschaubar. 14 bis 20 Euro pro Sitzplatz zahlt das Land Berlin für diesen Showtempel – in den großen Theatern oder Opern ist das nicht selten das Zehnfache. Um die Millionen, die es kosten würde, die engen Sitzreihen zu erneuern, bittet der Intendant bislang vergebens. Dieser Intendant, Berndt Schmidt, hat es vermocht, das Unterhaltungsunternehmen aus den tiefroten Zahlen herauszuholen – er weiß, wie Shows funktionieren, für die viele Leute bereit sind, viel Geld auszugeben. Der Zuschauerraum ist fast immer voll, die Menschen jubeln und klatschen im Takt.
Was würde Erich Honecker wohl sagen, wenn er das heutige Treiben sähe in dem Haus, das er hat bauen lassen? Wäre er stolz darauf? Immerhin müsste er sich keine Späße über den Sozialismus mehr gefallen lassen. Und er dürfte sagen: Der Kapitalismus hat dieses Rad straffer aufgepumpt. Neu erfunden hat er’s nicht. Es rollt auch so noch ziemlich rund.
David Ensikat
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