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125 Jahre Ku'damm: Am Anfang war das Vergnügen

Berlins berühmter Boulevard blickt auf glanzvolle Jahrzehnte zurück. Eine Hommage an den Kurfürstendamm, dem Szenekiez der ersten Stunde.

Was ist ein Boulevard? Der Brockhaus aus dem Jahr 1908, der Kurfürstendamm ist da bereits stattlich bebaut, berichtet Folgendes: Die namhaftesten Beispiele befinden sich in Paris (wo sonst?). Doch der Begriff wird immer öfter missverständlich auf einfach nur breite Straßen mit Baumbestand übertragen, die durch ältere Baumassen geschlagen oder neu angelegt wurden. Vorzuziehen sind laut Brockhaus die ältesten und „eigentlichen“ Pariser Boulevards, zurückgehend auf die stadtplanerischen Interventionen Ludwig XIV. Ihre stattlichen Häuser, breiten Fußwege, prächtigen Kaufläden, Kaffee- und Speisesäle, Theater und Schaubühnen und ihr Menschengewimmel machen diese Straßen zum Mittelpunkt des Pariser Lebens.

Mit dem Brockhaus auf die Geschichte des Kurfürstendamm geschaut, wird schnell deutlich: Die Straße ist anfangs just eine jener auf der grünen Wiese angelegten Prachtstraßen, denen das eigentliche Boulevardleben noch fehlt. Was ein Glück, dass bereits 1909 am westlichen Ende des Kurfürstendamms der Luna-Park mit Gebirgsbahn, Wirbelschaukel, Geistertheater und Zauberhaus eröffnet wird. Jetzt sind vergnügte, lärmende Trauben von Menschen am Ku’damm unterwegs, zur Freude der Anwohner, die spät am Abend noch durch ein Feuerwerk beglückt werden. Tatsächlich schafft es der Ku’damm bereits in den ersten 25 Jahren seines Bestehens vom Möchtegern-Boulevard zur quirligen Großstadtmagistrale, mit Berlinischem Tempo und TamTam. Die Vergnügungsindustrie hat daran von Anfang an ihren Anteil: 1890 versetzen Buffalo Bill und Annie Oakley, 200 Indianer und Cowboys sowie ebenso viele Präriepferde und Büffel die Massen in den Wilden Westen, dort wo Berlins Westen noch wild ist, nämlich auf einer Baubrache am Joachimstaler Platz. 1897, das Deutsche Reich ist Kolonialmacht, findet sich des Berliners ganz eigener Platz an der Sonne an der Bleibtreustraße, wo anlässlich der Transvaal-Ausstellung Zulus, Mutabeles und Basutos vor Publikum Alltag, Traditionen und Handwerk darstellen. Indessen verlangt des Großstädters nervöses Hirn nach immer neuen Attraktionen: Auf Klein-Afrika folgt im Jahr darauf eine Indien-Simulation aus viel Pappe und Gips. Noch weiter unten am Ku’damm, dort, wo später das Universum-Kino (die heutige Schaubühne) entsteht, ist 1909, wenn auch nur für kurze Zeit, Rollschuhlaufen der letzte Schrei.

Der Ausflugsverkehr zieht die Café-Häuser nach sich. Legendär ist das 1895 eröffnete Café des Westens, vulgo Café Größenwahn, Treffpunkt schräger Vögel oder solcher, die noch von sich reden machen wollen. Es folgen die Hofkonditorei Schilling (Ku’damm 235), dessen neobarocke Gastraumausstattung von 1901 noch heute erhalten ist. Schräg gegenüber (Ku’damm 14) hat sich die urige Einrichtung von Mampes guter Stube erhalten, in der Kurt Tucholsky 1912 begleitend zum Schnaps Literatur austeilt: Für Geist und Körper gibt’s Goethe und Kümmel. 1928 dann eröffnet am Kurfürstendamm 26a das Roberts, ein Schnellrestaurant in amerikanischem Stil, das mit Berlins erster Salatbar lockt. Der Kunde erhält am Eingang eine Lochkarte, mit deren Hilfe das eilig konsumierte Gut am Ausgang automatisch abgerechnet wird. Schnellrestaurants erobern also nicht erst in den 1970er Jahren den Kurfürstendamm.

Einmal als Vergnügungsort etabliert, lässt sich auch die neue Kunst der bewegten Bilder am Ku`damm nieder. Akazienduft, Sternenglanz und frisches Bier finden sich zusammen im 1913 eröffneten Garten-Kinematographentheater, etwa dort, wo die Komödie am Kurfürstendamm noch heute die Fahne abendlicher Unterhaltung hochhält. Im selben Jahr eröffnet das Marmorhaus als erster Kinobau am Ku’damm, wenig später der Union-Palast im Haus Wien, das auch ein Café, einen Ballsaal, einen Billardsalon und eine Kegelbahn beherbergt. Im Gloria-Palast am Kurfürstendamm 10 hat 1030 „Der blaue Engel“ Premiere.

Und natürlich kommen die Geschäfte. Ist die herrschaftliche Wohnstraße anfangs noch mit Vorgärten gesäumt, werden die Erdgeschosse der Häuser bald zu Läden umgebaut, was, zum Ärger der Baupolizei, zu einer Vielzahl von Werbetafeln in den Vorgärten führt. Bilddokumente der späten 20er Jahre zeigen bereits vereinzelt beleuchtete Schaukästen am Rande der Vorgärten, die die Passanten zum zugehörigen Geschäft locken sollen. Die einzigartigen Vitrinenreihen, die den Ku’damm heute auf beiden Seiten säumen, gehen letztlich auf eine Gestaltungsinitiative im Rahmen der Olympischen Spiele von 1936 zurück, zu der die Straße weltstädtisch herausgeputzt werden sollte.

Basis dieser Entwicklung der gehobenen Wohnstraße zur urbanen Arterie ist das rasante Wachstum der wilhelminischen Hauptstadt, die ungeheure Sogwirkung, welche die Metropole des Deutschen Reiches auf Arbeiter wie Großbürger, Künstler wie Intellektuelle ausübt. Am Kurfürstendamm wohnen jene, die die progressiven Kräfte der Gesellschaft ausmachen. Nicht, dass sich nicht auch einige preußische Adelige in den geräumigen Wohnungen niederlassen, aber ihre Identität hängt doch weiterhin am eigenen Landsitz. Prägender sind die bürgerlichen Bewohner: Anwälte, Bankiers, Ärzte, Wissenschaftler und Künstler, darunter ein großer Anteil deutscher Juden, alle zusammen verleihen sie dem Kurfürstendamm ein liberales Klima.

Unmöglich, ein Who ist Who des Kurfürstendamms vor der Katastrophe zu geben: Otto Dix und Jeanne Mammen haben hier ihre Ateliers, Max Freiherr von Oppenheim, Ausgräber von Tell Halaf, wohnt hier in splendider Entrückung und orientalischer Pracht, Hugo Raussendorff, Zuckercouleurfabrikant, sammelt Kunst, zumeist von deutschen Malern. Rahel Hirsch, die erste Medizinprofessorin Preußens, leidet hier an der Frauenfeindlichkeit ihres akademischen Umfeldes, Fritz Goetz, Lokalchef der Vossischen Zeitung, legt nach des Tages Arbeit hier seine Beine hoch. Zehn Zimmer, Küche, Bad, das Heer der für solchen Luxus nötigen Dienerschaft bleibt namenlos. Mindestens genauso wichtig wie die Bewohner aber sind die Besucher: die „schwarze Venus“ Josephine Baker im Bananenröckchen (1926), Thomas Wolfe (1935/36), der das Bonmot vom „größten Caféhaus Europas“ erfindet, die bulgarische Swing-Kombo Lubo D’Orio, die noch 1940 aufspielt. Wer Tennis spielen will, kann sich unweit vom Lehniner Platz zeitweise von Vladimir Nabokov unterrichten lassen.

Verständlich, dass die Nationalsozialisten keine rechte Freunde an dieser Straße finden, die ihnen als Symbol all dessen gilt, was sie mit ihrer Blut-und-Boden-Politik auszulöschen gedenken. Am Ende des zweiten Weltkrieges ist die Bevölkerung der auch physisch zerstörten Straße eine andere. Verfolgt, vertrieben und ermordet, mindestens aber ihres Hab und Guts beraubt, gibt es kaum noch Juden am Kurfürstendamm. Ihr Beitrag zur einstigen Kosmopolität von „Berlin-W.“ wird spätestens jetzt schmerzhaft bewusst. Umso erstaunlicher ist die Geschichte des Ehepaars Kutschera, dessen Kinder in Auschwitz ermordet werden, die selbst die Deportation nach Theresienstadt überleben und trotz alledem 1946 wieder jenes Café Wien eröffnen, das sie seit 1919 betrieben hatten.

Dass der Kurfürstendamm nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Blütezeit erfährt, liegt an den politischen Rahmenbedingungen. Der Boulevard ist nun als Hauptstraße des Westteils der Stadt Schaufenster des Westens mit allem, was dazugehört: den kulturellen Repräsentanzen der Besatzungsmächte Maison de France, British Information Centre und (etwas um die Ecke gelegen) Amerika-Haus, den Niederlassungen der großen Versicherungen und Banken, der bedeutenden Modeindustrie und ab 1952 auch der Internationalen Filmfestspiele Berlin. In Berlin musste alles – „eins, zwei, drei“ – zu haben sein, natürlich am Ku’damm. Kennedy ist 1963 ein Berliner und fährt über den Kurfürstendamm.

Aufbruchstimmung und Selbstbehauptungswillen, die zu Anfang des Kalten Krieges das Lebensgefühl prägen, schleifen sich jedoch bald ab. Nach dem Mauerbau richtet man sich ein, für immer, wie man denkt. Berlin wird zum Ziel zahlloser alternativer Flüchtlinge des bundesrepublikanischen Alltags, eine Entwicklung, die sich auch am Kurfürstendamm niederschlägt. „Lasst den Kuchen und die Sahne – nehmt euch eine rote Fahne“ skandieren Studenten in den 60er Jahren und mischen das Publikum der Kurfürstendammcafés auf. Rudi Dutschke, Wortführer der Studentenbewegung, wird am 11. April 1968 am Kurfürstendamm Opfer eines Attentats, an dessen Spätfolgen er 1979 stirbt. Spätestens im Blick auf diese Zeit scheiden sich die Geister. Dann kommt, das ist Konsens, der Abstieg zum Bulettenboulevard. Der Doku-Bericht „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, 1981 verfilmt, führt eine grimmige Parallelwelt des Drogenkonsum, der Kinder-Prostitution und Obdachlosigkeit vor Augen. Richtig ist aber auch: Selten war der Kurfürstendamm so populär und massentauglich bis in die Jugendkultur hinein. Die Stadtmission weiß noch heute von zahlreichen legendären Originalen der Straße zu berichten. Sogar der Straßenhandel blüht zeitweise, die fliegenden Händler beleben die Straße, wenn auch mit dem Verkauf billiger Produkte.

Und heute? Fühlbar ist der Wille, den Kurfürstendamm wieder zu einem pulsierenden Boulevard werden zu lassen. Doch das von Hildegard Knef besungene „Heimweh nach dem Kurfürstendamm“ ist Fluch und Segen für die Entwicklung der Straße. Groß ist die Versuchung, in Erinnerungen zu schwelgen, die ein „süßes Gestern“ glorifizieren. Doch der Mythos Kurfürstendamm ist immer auch Aufforderung zum Handeln, die Straße muss sich immer neu erfinden. Wird sie ihre Individualität behaupten, ihre bewährte Mischung aus Wohnen, Einkaufen und Vergnügen wieder erlangen, kurz: Wird sie wieder zu einem, Zitat Brockhaus, „eigentlichen Boulevard“?

Immerhin: Es tut sich einiges. Das Zoofenster, Christoph Mäcklers Hochhaus am Bahnhof Zoo, ist gebaut, das Kudamm-Karré, die gröbste Bausünde am Kurfürstendamm, harrt der Überarbeitung. Doch schon seit längerem geht eine Schere auf zwischen jenen weltweit agierenden Unternehmen, denen eine regionale Verankerung weniger gilt als der eigene Markenauftritt, und dem seit jeher am Ku’damm ansässigen Mittelstand, der durch zu hohe Mieten verdrängt wird. Geht das so weiter, wird der Ku’damm am Ende nur das pseudointernationale Flair des Potsdamer Platzes klonen. Einstweilen freut es zumindest, dass im Haus Cumberland, dem Hotelfiasko des wilhelminischen Kaiserreichs, demnächst tatsächlich wieder gewohnt werden soll. Schließlich ist da noch die Sache mit dem Luxus. Ja, der soll schon sein, aber eben auch Riesenrad und frisches Bier. Am Anfang war das Vergnügen. Dann kam der Boulevard.

Der Autor ist Ausstellungskurator und Gastprofessor für Architekturgeschichte an der Universität der Künste Berlin. Er konzipierte zusammen mit dem Architekten Christian Pabst die Ausstellung „Der Kurfürstendamm. 125 Jahre - 125 Geschichten.“

Sven Kuhrau

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