Städtebau: Am Alexanderplatz ist alles in der Schwebe
Vor genau zwei Jahren mochte sich Klaus Wowereit kaum beruhigen: „Eine Betonschlucht“, schimpfte er beim Blick vom Hochhaus auf den Alex, der wenige Schritte von seinem Amtssitz entfernt liegt. Und heute? Das Areal verändert sich stetig.
Sie haben Rucksäcke geschultert und die Gürteltasche fest um die Hüfte geschnallt. Die S-Bahn-Türen öffnen sich, und die Menschen strömen die Treppen hinab. Einer strandet auf dem Weg hinaus in der „Bierbar Alkopole“. Die, die es ein paar Meter weiter bis ins Freie schaffen, stehen auf einer städtebaulichen Legende: dem Alexanderplatz. Unvollendet liegt er da, zwischen der verruchten Vergangenheit in der Weltliteratur und der lichten Zukunft, die in der Vertikalen liegen soll.
Wer aus dem Bahnhof raus ist, ist mittendrin in der Stadt: Auf zwei Blöcke beigefarbenen Sandsteins stößt er am östlichen Ausgang. „Excuse me, you speak English?“, fragt ein Mädchen mit blauschwarzen Haaren und hält einen Pappbecher mit Münzen hin. Am Alex wird gebettelt, grammatikalisch falsch zwar, aber höflich. Man spricht rumänisch – andere französisch, schwedisch und natürlich englisch. Nur berlinert wird wenig – Franz Biberkopf ist schon lange tot.
Dafür wurde zuletzt viel gebaut und noch mehr zerstört, wie Architekt Hans Kollhoff meint. Der Grande unter den Berliner Baumeistern, der den Masterplan für diesen Platz schuf, verstärkt die Kritik, die der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit fast auf den Tag genau vor zwei Jahren übte: Zeitgenössische Architektur bringe hier nur „Klötze“ hervor wie das schräg gegenüber vom Bahnhof liegende Geschäftshaus „Die neue Mitte“. Oder es entstehen Kaufhäuser in sonderbaren Farben wie das „Alexa“ an der Grunerstraße. Vom 14. Stock des „Haus des Reisens“ aus hatte Wowereit auf die „Betonschlucht“ geschimpft, die ihm da zu Füßen lag. Das Land müsse mehr Einfluss auf Investoren nehmen, bilanzierte er. Wiederholen mochte er seine Kritik zwei Jahre nicht mehr, aber auch nicht zurücknehmen. Zu diesem Thema wolle der Regierende nichts sagen, hieß es auf Nachfrage.
Als Wowereit zur Eröffnung einer öffentlichen Toilette von Stadtmöblierer Wall auf dem Alex stand, fragte er seinen SPD-Parteifreund Ephraim Gothe, warum er die „Millionen von Kaugummis“ immer noch nicht vom Pflaster entfernen ließ. Keiner wird behaupten können, dass sich Mittes Baustadtrat dieses Problems nicht angenommen hätte: Am Fuße des Fernsehturmes ließ er ein Versuchsfeld mit teflonbeschichteten Bodenplatten anlegen. Auf zwei der vier Versuchsobjekte ist nur jeweils ein schwarzer Fleck zu sehen, dessen Haftkraft Gothe mit seinen Mokassins prüft. Im August soll ein neuer Versuch starten, die Platten werden glatt gemeißelt und versiegelt. „Das klebt ja nur so gut, weil der Stein so rau ist“, sagt er. Aber nicht nur Kaugummis, sondern auch Ketchup, Bier und Milchshake-Reste setzen den hellen Steinen zu. Es gibt zwar reichlich Mülleimer auf dem Areal, doch die sind nicht dicht genug für das klebrige Reste-Gebräu. Nun wird ein neuartiger Müllbehälter erprobt, der Abfall schluckt und in eine unterirdische Wanne plumpsen lässt. Der Einsatz effizienter Technik lohne sich, denn „jede Reinigung des Platzes kostet 10 000 Euro“.
Es wäre wohl unfair zu verlangen, der Alex möge so sauber sein wie der Pariser Platz. Der ist für Staatstragendes reserviert. Außerdem ist auf dem Alex immer etwas los – von der Tierschutz-Demo bis zum Weihnachtsmarkt. Wegen der Fülle der Veranstaltungen hat die Stadt festgelegt, dass es wenigstens an 120 Tagen im Jahr kein Remmidemmi gibt. Aber auch dann ist der Platz selten leer. „Was am Alexanderplatz abgeht, wurde lange unterschätzt“, sagt der Handelsexperte von Jones Lang Lasalle. Der Platz habe in der Besuchergunst Ku’damm und Tauentzien überholt: 10 000 Passanten in der Stunde, so viele wie nirgends in Berlin. So gesehen schießt Wowereits städtebauliche Kritik am Alexanderplatz an der wirtschaftlichen Realität vorbei. Und vielleicht auch an der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen wie Sophie (14), Alica und Natalie (beide 15). Deren Freizeit ist eben manchmal von Milchshakes, Burgern und Kaugummis geprägt. Und ihr Treffpunkt ist das Alexa. In dem Einkaufszentrum gibt es Autogrammstunden von Stars wie Bushido, Ozzy Osbourne oder Rihanna. Das gehört zum Programm wie Salsakurse oder Nichtraucherseminare von Bergsteigerlegende Reinhold Messner. Von einem „Treffpunkt mit Weltstars“ spricht Center-Manager Oliver Hanna und davon, wie sich so etwas herumspricht, bis es „trendy, hip, angesagt“ ist, im Alexa zu sein. Im vorigen Jahr gab es im Center sogar einen „Flashmob“: 800 Jugendliche verabredeten sich per SMS, um McDonald’s „leer zu kaufen“. Auch durch so etwas wird ein Kaufhaus Kult.
Das umstrittene Alexa wurde zwar vor Stadtrat Gothes Amtsübernahme genehmigt. Den Neubau findet er trotzdem gut. Sogar Historisches liest er aus der Farbe heraus: „Hier stand früher das Rote Schloss“, sagt er. Und das damalige Polizeipräsidium aus rotem Backstein sei eine Trutzburg gegen die SA-Horden gewesen. Die Fassade der „Neuen Mitte“ greife die Leitmotive am Platz auf: Sandstein und Fenster. Das „viele Glas“ habe man dem Investor abtrotzen müssen, Einzelhändler bevorzugten eigentlich die „Black Box“: „Die brauchen die Wände ja als Stellflächen für Regale.“ Auch beim Umbau des Kaufhofs gegenüber widerstand Architekt Josef Kleihues dieser Versuchung. Der Kaufhof füllt einen der drei beigen Sandstein-Blöcke, die den Alexanderplatz auf jener Seite begrenzen, die dem Bahnhof zugewandt ist. Wie „Die Neue Mitte“ will sich der sanierte Kaufhof an benachbarten Baudenkmälern, dem Alexander- und Berolinahaus von Peter Behrens, orientieren. Aber beide Neubauten haben nicht die kraftvolle Eleganz von Behrens Klassikern der „Lichtarchitektur“: Solche Entwürfe entstehen wohl nur in Zeiten des Umbruchs, zu Behrens’ Zeit eben, die auch Döblins war.
Wer mit Stadtrat Gothe über den Alex streift, kann sich leicht anstecken lassen von dessen Blick auf diesen Ort, der oft von dessen Veränderung und dessen Zukunft geleitet ist. Der Politiker lobt das Gebäudeensemble, und von einer Steinwüste könne man auch nicht reden, seit die Ränder bepflanzt sind: mit japanischen Perlschnurbäumen, die 25 Meter groß werden können, und rot blühenden Kastanien. Mehr Grün sei nicht möglich, weil gleich unter den Platten die Tunnel der U-Bahnen liegen, die sich am Alex kreuzen. Und wenn die Bäume erst einmal groß sind und schattige Oasen auf dem Alex bilden, dann wird dem großen Unvollendeten vielleicht auch die Krone aufgesetzt: Acht 150 Meter große Hochhäuser sieht Kollhoffs städtebaulicher Plan vor, zwischen Park-Inn-Hotel und Alexa sowie auf der anderen Seite der Alexanderstraße. Ein zweiter Kranz von Häusern soll mit 60 Metern die Dimensionen vom Haus des Lehrers aufnehmen. Vorerst bleibt diese Vertikale am Alex aber in der Schwebe – es fehlt an Mietern.
In der morgigen Ausgabe lesen Sie ein Interview mit dem Achitekten Hans Kollhoff über seine Sicht auf den Alex.