Berlin macht dicht: Als das Coronavirus das Nachtleben ausbremste
Die letzte Salzstange ist gegessen, die Polizei setzt die Schließung von Berlins Kneipen durch. Streifzüge durch eine Stadt, in der einige noch alles ausreizen.
Am Ostkreuz sind am Abend sämtliche Lokale geöffnet und gut besucht. Dazu zählen auch jene, deren Angebot an Essbarem bei Salzstangen und Erdnüssen endet - und die deshalb geschlossen sein müssten. Gegen 23 Uhr dann eine Polizeistreife. Zwei Beamte betreten einen Laden nach dem anderen, in der Hand die ausgedruckte Verordnung des Senats.
Ein freundliches „Guten Abend“ in die Runde, ein kurzes, aber bestimmtes Gespräch mit dem Barpersonal, diskussionslose Einwilligung in die Corona-Maßnahme, Verabschiedung. Auf dem Weg nach draußen scherzen die Beamten mit den Gästen, danach ruft der Wirt zur letzten Runde. Berlin ergibt sich.
Die Verordnung, die das Nachtleben Berlins zum Erliegen bringt, wird an diesem Sonnabend sehr unterschiedlich befolgt. Kneipen, Kinos und Shisha-Bars, Spielhallen und Wettbüros sollen sofort schließen, die Clubs ebenfalls, aber von denen ist am Samstag sowieso keiner mehr auf, die Betreiber haben von sich aus verzichtet. Restaurants dürfen weiter geöffnet haben, sofern sie einen Mindestabstand von 1,50 Meter zwischen den Tischen sicherstellen.
Am Ende wird die Polizei 200 Objekte angesteuert haben, darunter 63 Kneipen. Rund 100 Beamte seien für die Aktion ab 20 Uhr zusätzlich im Dienst gewesen, sagt eine Polizeisprecherin am Sonntag dem Tagesspiegel. Niemand habe sich gewehrt.
Manche Betreiber reagieren schon auf die Verordnung, bevor die Polizei unterwegs ist - und stoßen auf Verständnis. Zum Beispiel im Yorck-Kino nahe Mehringdamm, wo um 20 Uhr eigentlich die „Känguru-Chroniken“ gezeigt werden sollen. Gäste, die das Kino betreten, sind überrascht: das Foyer komplett leer bis auf drei Mitarbeiterinnen hinter der Theke. Tut uns wirklich seid, sagt eine. Die Entscheidung habe sie selbst überrascht, sie haben eben erst Berge von Popcorn zubereitet. Die verschenken sie jetzt an jeden, der umsonst vorbeigekommen ist. „Mögen Sie lieber süß oder salzig?“
Viele Kneipenbetreiber sind weniger vernünftig. Sie wollen offenhalten, bis die Polizei kommt. Die arbeitets sich mit ihren zwei Hundertschaften Straße für Straße durch die Feiermeilen in Mitte, Friedrichshain, Kreuzberg und Neukölln. Das dauert. Und wo geschlossen wird, bilden sich alternative Feierorte: Einige Spätis werden spontan zu Trinkhallen umfunktioniert – die Kunden bleiben im Warmen stehen und leeren in Ruhe ihr soeben gekauftes Flaschenbier.
Die Neuköllner Weserstraße hat sich Samstagabend bereits sichtbar verändert. Am Wochenende drängen sich hier sonst Berliner und Touristen gleichermaßen in dutzenden Kneipen, heute sind vor vielen Fenstern schon die Rollläden heruntergelassen.
Neukölln bleibt wacker: „Hoch die internationale Solidarität“
Das „Ä“ an der Ecke Fuldastraße hat sich von seinen Kunden mit einer Grußbotschaft verabschiedet, sie ist auf einem Zettel am Eingang zu lesen: „Wir wünschen allen ein gutes Überstehen der nächsten Zeit. Auf dass wir uns alle gesund und munter wiedersehen.“ Und dann noch: „Hoch die internationale Solidarität“.
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Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in der Raucherkneipe „Tier“, wird dagegen gefeiert. Der Laden ist voll, die Gäste sitzen und stehen eng beieinander. „Morgen leider nicht mehr“, erklärt die Bedienung. „Eigentlich hätten wir heute schon nicht mehr aufmachen dürfen.“ Sie hätten irgendwie zu spät von der Senatsentscheidung erfahren. „Jetzt nehmen wir mit, was geht.“
Ähnlich sieht es der Betreiber des „Würgeengel“ in der Dresdener Straße. Während die Shisha-Bar gegenüber, das Kino Babylon und die Absturzkneipe Möbel Olfe an der Ecke bereits geschlossen haben, drängen sich hier die Gäste. Natürlich wisse das Team von der neuen Verordnung, sagt der Barmann, doch man habe sich dafür entschieden, noch ein bisschen weiterzumachen. „Aber nur bis Mitternacht. Wir wollen es ja nicht überstrapazieren.“
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Das „Schlawinchen“ in der Schönleinstraße bleibt auch nach Mitternacht erstmal offen. Es hat einen Ruf zu verlieren: Seit der Einweihung 1979 ist die Kneipe seit Jahrzehnten ununterbrochen geöffnet – 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. In dieser Nacht kommt allerdings nur noch Stammpublikum nach Klopfen an die Tür hinein – der Rest wird rüde abgewiesen. Sonntagmittag dann das Undenkbare. Ein Zettel an der Tür verkündet die Schließung: „Wir sehen uns wieder, wenn wir alle tot sind. Prost Nachbarn!“ Plötzlich geht doch die Tür auf, der Wirt fragt, ob man noch ein Bier will. Er ist konsterniert. „Die drohen halt mit 15.000 Euro Strafe, und wenn man dann noch mal erwischt wird, ist die Konzession weg.“
Plötzlich Ruhe in Friedrichshain
In Prenzlauer Berg will ein Kneipier mit einem sehr speziellen Trick durchkommen. Samstagnacht erzählt er seinen Gästen, dass er nun notfalls seine Besucher zu Teilnehmern einer privaten Veranstaltung mit 49 Teilnehmern erklären wolle. In Friedrichshain wird die Simon-Krach-Straße dagegen wieder zur Simon-Dach-Straße. Die bekannten Bars der Kneipenmeile haben am Samstagabend bereits geschlossen, einige sind noch geöffnet. Von außen sind Leute zu sehen, die sich im Raucherraum drängen. Auf der Straße fast nur Touris unterwegs - und die Dealer an der Ecke zur Revaler. Letzte Zuflucht: Pizza Dach hat um Mitternacht wie immer geöffnet.
Die Kellnerin eines Restaurants in Kreuzberg betont, sie fürchte um ihren Job. Der Chef habe schon mitgeteilt, dass auch für Restaurants wohl noch die Corona-bedingte Schließung kommen werde – wofür es allerdings derzeit keine Anzeichen gibt. Doch die Sorge ist groß: Gerade in der von freien Arbeitsverhältnissen geprägten Gastro- und Barszene werden viele Mitarbeiter in den nächsten Wochen plötzlich ohne Einkommen dastehen.
Lieber eine abgekühlte Suppe als gar keine Suppe
Die allermeisten Restaurants ignorieren am Samstagabend noch die neuen Regeln. Die Tische sind besetzt, der Mindestabstand von anderthalb Metern scheint keinen zu scheren. Doch es gibt Ausnahmen. Vor dem „Kinnaree Thai“ am Südstern schreibt am Abend ein Mann mit weißem Edding auf die Infotafel: „Tischabstand 1,5 Meter“. Daneben malt er ein Herz. Der Mann heißt Tam Suttisap, er ist der Betreiber.
Als er vorhin von der Senatsverordnung erfuhr, habe er gleich den Raum ausgemessen und vier von 18 Tischen aussortiert - jetzt passt es. Suttisap sagt, er finde die Regelung sehr vernünftig. „Und falls sie noch verschärft wird und wir einen Sicherheitsabstand von drei Metern brauchen, werden wir auch das hinkriegen.“ Aus Angst vor Corona seien die Gästezahlen im „Kinnaree Thai“ zuletzt sowieso um 70 Prozent eingebrochen.
In seiner Not will Tam Suttisap seine Gerichte ab sofort zu den Daheimbleibern ausliefern. „Ich habe das immer abgelehnt, weil dann die Qualität leidet, die Suppe vielleicht schon etwas abkühlt“, sagt er. Aber in Corona-Zeiten sei nichtperfekte Suppe immer noch besser als gar keine Suppe.