Gesellschaftliches Engagement in Deutschland: Alles Gute kommt von Bürgern
Engagement hat Tradition – und wandelt sich. 44 Prozent der Deutschen sind ehrenamtlich aktiv - ob bei Wikipedia, Wetter oder Wissensstiftungen. Eine Bilanz
Wir nutzen täglich Wikipedia, verlassen uns mehr oder weniger auf den Wetterbericht oder genießen die gute Organisation von Großveranstaltungen wie Kirchentagen oder Sportevents. So unterschiedlich diese Beispiele wirken mögen – eines haben sie gemeinsam: Ohne das Engagement von ehrenamtlichen Helfern wären sie kaum denkbar. Diese Freiwilligen sind Motoren des gesellschaftlichen Lebens, auch in Berlin und Brandenburg.
Ihr Einsatz ist mittlerweile so selbstverständlich, dass vielen nicht bewusst ist: Sowohl Online-Nachschlageseiten als auch viele Wetterstationen funktionieren erst dank Einsatz von Freiwilligen. 4,6 Milliarden Arbeitsstunden haben Freiwillige in Deutschland bereits im Jahr 2009 geleistet, hat die Prognos AG überschlägig berechnet. Schon mehr als jeder dritte Bundesbürger ist als Volunteer für ein Projekt eine gewisse Zeit lang oder langfristig mit heißem Herzen dabei.
Zehn Prozent mehr Aktive als vor 15 Jahren
In Deutschland und auch in Berlin engagieren sich immer mehr Menschen zivilgesellschaftlich. Laut dem aktuellen Bericht der Bundesregierung dazu sind bereits 44 Prozent der Menschen in Deutschland ehrenamtlich aktiv. Das sind gut zehn Prozent mehr als noch vor fünfzehn Jahren. Und 50 Prozent der noch nicht aktiven Befragten sind dazu prinzipiell bereit. Deutschland, Land der Ideen, Land der Helfenden: Rund 31 Millionen Menschen wirken in einem Ehrenamt. Für den guten Zweck wurden im Land 2016 mehr als fünf Milliarden Euro gespendet. Diese Freigiebigkeit spiegelt sich auch in zahlreichen Charity-Events: 280 000 Euro für den guten Zweck – das war das Ergebnis der ersten Auktionsgala „Wir für Berlin“, die der Verein Berliner Kaufleute und Industrieller e.V. (VBKI) mit dem Kunsthaus Lempertz im September 2016 veranstaltete.
Und das Engagement wird gebraucht: Ohne die Protagonisten der Willkommenskultur hätte Deutschland die Aufnahme der Flüchtlinge sicherlich nicht bewältigt. Inzwischen entstanden aus Massenkontakt bisweilen Freundschaften oder gar wahlfamiliärer Zusammenhalt. Manchmal mündete der Idealismus der Helfer auch in Enttäuschungen – etwa, wenn inzwischen gewachsenes Anspruchsdenken und Versorgungsmentalität das Verhältnis bestimmen. Auch dank der Hilfe Ehrenamtlicher als Unterstützer geben Geflüchtete jetzt als Rettungsschwimmer etwas an die bundesdeutsche Gesellschaft zurück.
Einsatzwille, Freudentränen, durchwachte Nächte – all diese Emotionen lassen sich indes schwer in Zahlen abbilden. Die jüngste Statistik zu Engagement in Berlin reicht nur bis ins Jahr 2014. Daher verweist auch die Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund und Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales, Sawsan Chebli, auf die aktualisierungsbedürftige Aussagekraft des jüngsten „Länderbericht zum Deutschen Freiwilligensurvey 2014“. Das vom Deutschen Zentrum für Altersfragen auf alle Bundesländer aufgefächerte Vergleichswerk mit 200 Seiten bescheidet Berlin, dass „64,7 Prozent der Menschen öffentlich gemeinschaftlich aktiv sind“ – 5,5 Prozentpunkte weniger als der Bundesdurchschnitt. Diese Punkte dürfte die Stadt aber als Geflüchteten-Metropole längst gut gemacht haben. Genauso dürfte der Anteil freiwillig Engagierter deutlich gestiegen sein, der im Jahr 2014 noch bei 37,2 Prozent lag. Belastbare Zahlen bringt die für 2019 geplante Freiwilligensurvey des Bundes.
Politische Dimension
Wichtiges Interessengebiet neben der Flüchtlingshilfe ist die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, wie sie etwa im Engagement der VBKI-Lesepaten zum Ausdruck kommt. Auch der Sport und der Kulturbetrieb stützten sich stark auf das Engagement privater Initiativen. Fördervereine wie die Freunde der Gesellschaft der Akademie der Künste, der Museumsverein des Deutschen Historischen Museums oder der Unterstützerkreis der Berlinischen Galerie sammeln Spenden, ermöglichen Veranstaltungen.
Vielfach hat bürgerschaftliches Engagement auch eine entscheidend politische Dimension. So berät etwa der Vorsitzende einer Kommission bei Raubkunst-Streitfällen als Ehrenamtler. Der Opferbeauftragte des Landes Berlin, Roland Weber, nimmt sich auf Basis eines Ehrenamtes den Bedürfnissen der Hinterbliebenen und Geschädigten des Terroranschlags auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz 2016 an. Die ehemalige Ausländerbeauftragte Barbara John ist in vielen Ehrenämtern sozial aktiv, etwa als Ombudsfrau der Bundesregierung im Falle der NSU-Morde.
Laut der Berliner Landesfreiwilligenagentur übernehmen immer mehr junge Leute auch digital gesellschaftliche Verantwortung. Altruismus spielt als Motivation eine wichtige Rolle, allerdings vermittelt ein Ehrenamt auch die gefragten „Social Skills“ und schmückt den Lebenslauf. Dass freiwilliges Engagement beim Berufseinstieg von Vorteil sein kann, hat die Bundesagentur für Arbeit konstatiert. Hauptantrieb ist nicht mehr allein der Wunsch, „Gutes zu tun“. Eine Befragung der Landesfreiwilligenagentur von 2016 zeigt, dass viele auch soziale Kontakte suchen (33 Prozent), Praxiserfahrungen sammeln (29) und sich qualifizieren wollen (14). Jeweils 12 Prozent begründeten ihr Engagement mit dem Wunsch, Gutes zu tun und gesellschaftlichen Verantwortung zu übernehmen. Es beseelt, beflügelt und gibt vieles zurück. Auch der Tagesspiegel engagiert sich vielfach, unter anderem durch seine Spendenaktion "Menschen helfen!" - und das schon seit einem Vierteljahrhundert - sowie die gleichnamige, jeden Donnerstag erscheinenden Seite "Menschen helfen".
Entgegen dem Bauchgefühl sind im Bundesschnitt Frauen seltener engagiert als Männer (41,5 / 45,7 Prozent). In Berlin verhält sich das laut Survey eher ausgeglichen. Der Anteil von Personen mit hoher Bildung ist in Berlin laut Bundessurvey mit 43.9 Prozent doppelt so hoch wie jener der wenig Gebildeten.
Immer mehr gehen stiften
Mit dem Boom der Hauptstadtwirtschaft steigt auch die Zahl der Gebenden, wie sich am Stifterwesen ablesen lässt. Nach Auskunft der Engagement-Bevollmächtigen Chebli waren zum Stichtag 1. Januar 2017 insgesamt 900 Stiftungen in Berlin registriert – 1990 waren es kurz nach der Wende noch 664 Stiftungen. Das Gesamtvolumen der im Land Berlin beaufsichtigten Stiftungsvermögen beträgt rund vier Milliarden Euro. Steuervorteile mögen eine Rolle spielen. Doch immer auch verfolgen Stiftungen wie die Bürgerstiftungen langfristig festgeschriebene Zwecke, ob für den Umweltschutz, Menschenrechte oder für die Prävention sexuellen Missbrauchs. Das Helferwesen professionalisiert sich, etwa durch den Ausschuss zum Ehrenamt im Abgeordnetenhaus, der etwa die in Berlin und Brandenburg gemeinsam geltende Ehrenamtskarte als Teil der Anerkennungskultur beschloss.
Jährlich findet die Berliner Freiwilligenbörse, Engagementwoche, Stiftungstag und die Stiftungswoche statt. Das Landesnetzwerk „Aktiv in Berlin“, die Landesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen in Berlin (LAGFA) oder der Landesverband schulischer Fördervereine Berlin (LSFB) sind Plattformen des Wirkens. Zum zweiten Mal verlieh das Land Berlin den CSR-Preis für Unternehmen „Engagiert in Berlin“ – auch an die Tagesspiegel-Spendenaktion „Menschen helfen!“.
Die Bürokratie bremst
Nachbarschaftsheime und Stadtteilzentren sowie bezirkliche Ehrenamtsagenturen werden mit Landes-, Bundes- oder EU-Geldern gefördert. Gute-Tat.de oder die Landesfreiwilligenagentur mit dem guten alten Treffpunkt Hilfsbereitschaft haben schon viele Suchende und Einsatzstellen vermittelt. Beispielhaft vielseitig wirkt das Freiwilligenzentrum Sternenfischer in Treptow-Köpenick.
Größte Bremse beim weiteren Ausbau des Ehrenamts ist nach Auskunft von engagierten Menschen die Bürokratie. Nicht unproblematisch ist die Schnittstelle zwischen Ehrenamt und öffentlichen und privaten Leistungserbringern. Wie ist es zu beurteilen, wenn die ehrenamtliche Fahrgemeinschaft in dünn besiedeltem Gebiet die eingestellte Buslinie ersetzt? Was bedeutet es, wenn Freiwillige für Wohlfahrtsverbände Essen ausfahren – gefährdet das Jobs im Niedriglohnsektor? Und wenn der Besuchsdienst sich für pflegebedürftige Menschen Zeit nimmt – erbringt er dann nicht eine Leistung, die zum Kern der Pflege gehört oder gehören sollte? Umfassende Forschung fehlt. Die vor gut einem Jahr gegründete Gewerkschaft für Ehrenamt und Freiwillige Arbeit (Gefa) rief Freiwillige in ganz Berlin zum „Warnstreik“ auf. Ehrenamt darf den Staat ergänzen, aber ihn nicht ersetzen.