Kunst als Mahnung in Berlin: Ai Weiwei hüllt Konzerthaus in Rettungswesten
Am Konzerthaus am Gendarmenmarkt macht der Künstler Ai Weiwei auf das Elend der Flüchtlinge aufmerksam – und viele Touristen nachdenklich.
Seit Minuten schon steht Dori J. schweigend vor dem Konzerthaus. Dann wendet sie den Blick ab und schüttelt sich. „Ich finde es großartig, furchtbar, total erschütternd“, sagt die Berlinerin: „Ehrlich, ich hab’ ne richtige Gänsehaut.“
Die Gänsehaut hat nichts damit zu tun, dass es an diesem sonnigen Sonnabend ziemlich kühl ist, sondern mit den Gefühlen, die eine Aktion des chinesischen Künstlers Ai Weiwei derzeit offenbar bei vielen Besuchern des Gendarmenmarkts auslöst. „Ganz toll und ganz schrecklich“ sagt auch Jo, der Ehemann von Dori J., und präzisiert: „Die Idee ist toll, der Anlass ist schrecklich. Wenn man bedenkt, dass jede einzelne dieser Rettungswesten zu einem Menschen gehört hat...“.
Aktion noch bis Dienstag
Die Rettungswesten leuchten zu diesem Zeitpunkt in alarmierendem Orangeton von vier der sechs Säulen am Portal des Konzerthauses. Die fünfte Säule ist gerade in Arbeit, sorgfältig bringen Ai Weiweis Mitarbeiter die Westen von oben nach unten an. Am Montag soll die temporäre Installation anlässlich einer Gala der Initiative Cinema for Peace eröffnet werden und bis Dienstag zu sehen sein.
Der Künstler will damit auf die dramatische Flüchtlingssituation an den Grenzen Europas aufmerksam machen und vor allem an das Schicksal der Ertrunkenen erinnern, die in überladenen Booten auf ihrem Weg über das Mittelmeer ohne Chance waren.
Viele Westen waren nicht echt
Die meisten Besucher des Gendarmenmarkts wissen sofort, was mit der Aktion gemeint ist. „Ich habe gelesen, dass viele Rettungswesten gar nicht echt waren und sich mit Wasser vollsaugten“, sagt ein junger Mann, der mit seiner Tochter auf der Schulter vor der Absperrung steht. „Das nehmen die Schlepper einfach in Kauf.“
Eine ältere Dame aus Kopenhagen meint: „In meiner Heimatstadt hat Ai Weiwei gerade eine Kunstaktion aus Protest gegen die Asylpolitik der dänischen Regierung gestoppt. Ich finde es gut, dass er hier in Berlin weitermacht.“
Eine junge Frau ist genervt
Die meisten Touristen äußern sich ähnlich, nur eine junge Frau reagiert genervt. „Immer diese Flüchtlinge“, sagt sie: „Ich kann es nicht mehr hören.“ Ihr Begleiter versucht sich in Diplomatie. „Na wenn die Aktion nur ein paar Tage dauert“, sagt er. Ein junger Japaner hat noch nie etwas von Ai Weiwei gehört, findet die Idee aber gut. Eine Gruppe junger Menschen diskutiert angeregt vor dem Französischen Dom. Es sind Architekturstudenten aus der kanadischen Bundeshauptstadt Ottawa. „Das ist eine großartige Aktion“, sagt einer von ihnen: „Wir haben gerade etwas über die Geschichte Berlins und die Hugenotten gehört, die ja einst auch als Flüchtlinge von Frankreich nach Deutschland kamen. Dieser Platz hier ist mit seiner Geschichte also geradezu prädestiniert für das Thema. Und außerdem kommen viele Besucher hierher.“
Der Künstler hätte sich nicht ein Gebäude in Berlin, also der Stadt, die weltweit am meisten für die Versorgung von Flüchtlingen aufwendet, für seinen Christo-Abklatsch aussuchen sollen, sondern das europäische Parlament oder einen anderen die EU repräsentierenden Bau.
schreibt NutzerIn habimmerrecht
Auch ein Schlauchboot wird aufgestellt
Manche sogar mehrmals – wie ein Ehepaar aus Rudow, das schon seit dem Morgen den Fortgang der Aktion verfolgt. „Ein Techniker hat uns erzählt, dass noch ein Schlauchboot aufgestellt wird, wenn die Säulen fertig sind“, sagt die Frau. „Auch das soll direkt von der Insel Lesbos stammen.“
Der behandschuhte Saxofonist vor dem Schiller-Denkmal hat das noch nicht aufgeblasene Boot schon hinter dem Absperrgitter entdeckt. „Da steht – wie auf den Westen – überall Yamaha drauf“, wundert er sich: „Ich hab’ erst gedacht, dass wär’ ne Werbeaktion für die.“ Das sei natürlich nicht so“, sagt ein Sprecher von „Cinema for Peace“: „Die Rettungswesten kommen von Lesbos. Ai Weiwei, der sich derzeit auch selbst dort aufhält, hat sie dort vom Bürgermeister erhalten.“
"Europa muss endlich handeln"
Ein älteres Ehepaar schaut nachdenklich auf die Säulen am Konzerthaus. Sie ist Französin, er Grieche. „Die Menschen in meiner Heimat sind schon seit Jahren mit der schrecklichen Situation der ertrinkenden Flüchtlinge konfrontiert, das ist ihr Schicksal“, sagt er. Und sie ergänzt: „Europa muss endlich handeln.“
Über Ai Weiweis plakative Aktion wird geredet, sie macht betroffen, regt zum Denken an, stößt ab. Was will man mehr von Kunst im öffentlichen Raum? Ganz besonders in diesem Kontext und an diesem Platz.
schreibt NutzerIn DerJoker