Berliner Baupolitik: Abrechnung der Architekten
Zufällig, billig, einfallslos: Experten stellen der Berliner Baupolitik ein vernichtendes Zeugnis aus. Ihnen fehlt der offene Wettbewerb und eine Vision – für die Quartiere, die die Zukunft der Stadt entscheidend beeinflussen werden.
Es ist ein ganz besonderes Dach. Von hier, dem fünften Stock des Lagerhauses, können die Architekten nicht nur auf Berlins Vergangenheit schauen – sondern haben auch die Zukunft im Blick. Wo heute noch der Wind über die 40 Hektar große Fläche fegt, die Natur sich zaghaft die verlassenen Verladestationen und Speditionsbauten zurückerobert, soll es in 20 Jahren zugehen wie am Potsdamer Platz oder in der Friedrichstraße. Das Gebiet an der Heidestraße gilt als das größte Entwicklungsgebiet der Stadt und soll für mehrere hundert Millionen Euro in ein lebendiges Quartier mit Wohnungen, Geschäften und Büros verwandelt werden.
So jedenfalls hat es Senatsbaudirektorin Regula Lüscher angekündigt. Wer sich aber umhört in der Berliner Architektenszene, beginnt an der Stadtentwicklungspolitik zu zweifeln. Tatsächlich fällt die Kritik der Baumeister – egal welcher Generation – vernichtend aus. Star-Architekt Hans Kollhoff etwa wirft der Verwaltung „Versagen“ vor. Der Berliner Städtebau sei „dem Zufall überlassen“. Und Meinhard von Gerkan, der Architekt des Hauptbahnhofs, beklagt, im Umfeld des Neubaus entstehe „die primitivste, billigste und ordinärste Architektur“.
Mit einem Füllhorn neuer Ideen war auch die Architekturschmiede Graft, zuvor in Los Angeles bekannt geworden, auf die Brache nördlich des Hauptbahnhofs gezogen. Doch wenn die Chefs heute vom Dach über die Stadt blicken, erkennen sie keine kühnen Projekte, innovative Architektur oder zeitgemäße Entwürfe, sondern bauliches Einerlei. Kein Wunder, sagen Lars Krückeberg, Thomas Willemeit und Wolfram Putz. Gäbe es offene Wettbewerbe, dann wäre die ganze internationale Architektenelite am Start. Vor allem aber wäre „Überraschendes von Newcomern“ zu erwarten. Doch daran fehle es.
Lüscher lässt den Vorwurf nicht gelten: Wettbewerbe seien „die wichtigsten Instrumente zur Sicherung von Baukultur“. Sie würden bei allen wichtigen Projekten durchgeführt: den Gebäuden auf dem Washingtonplatz am Hauptbahnhof, für die Parklandschaft in Tempelhof, dem Label II an der Mediaspree, am Hausvogteiplatz und am Alexanderplatz. Die Architekten kontern: Wettbewerbe gebe es zwar, aber teilnehmen dürften meistens nur wenige ausgewählte, den Investoren genehme Baumeister. Wettbewerbe, die offen für alle ein Feuerwerk von Ideen entfachen und so eine breite Debatte auslösen, seien ganz selten.
Stattdessen werden „wichtige Entscheidungen in Berlin im kleinen Kämmerlein getroffen“, sekundiert Christoph Langhof, ebenfalls einer der Erneuerer der Branche. Die Abrechnung der Architekten kommt zu einer Zeit, in der Berlin vor einem kleinen Bauboom steht. In diesen Jahren wird die Entwicklung festgelegt für etliche Quartiere, die die Zukunft der Stadt entscheidend beeinflussen werden. Aber in der Zunft geht die Sorge um, dass Berlin keine zeitgemäßen Rezepte findet für die zahlreichen Großaufgaben, die sich da ankündigen: Für das Gebiet Heidestraße ebenso wenig wie für das 21 Hektar große Anschutz-Areal, für den Flughafen Tempelhof sowie die Wiederherstellung von Molkenmarkt und Klosterviertel im historischen Zentrum.
„Anders als in London gibt es keine politische Vision für die Entwicklung Berlins“, sagt Harald Bodenschatz. Der Professor an der Technischen Universität ist Mitglied zahlreicher Stadtplanungsgremien. Die Entwicklung eines politischen Leitbildes sei Chefsache, wie in London müsse der Regierende ran. Ohne diese Vision würden „einzelne Orte isoliert betrachtet, ohne deren Bedeutung für den städtischen Kontext“. Der Vorplatz des Hauptbahnhofs sei so ein Beispiel. Wie dieser „Eingang zur Stadt“ definiert wird, sei nie diskutiert worden. Nun bleibe die Entwicklung einzelnen Investoren überlassen.
Deshalb ist trotz des Baubooms von Aufbruchstimmung nichts zu spüren. Angesichts der Masterpläne für neue Gebiete wie das Anschutz-Areal rund um die O2-World befürchten Experten, dass allenthalben austauschbare Blöcke abgeworfen werden: Voluminöse, monotone Baukörper, deren Anpassung an die Umgebung sich in der Wahl des Sandsteins und der Einhaltung der Berliner Traufhöhe erschöpft. Statt auf die Kreativität vieler zu setzen, begnügt sich die Stadt hauptsächlich mit den Ideen der Senatsbaudirektorin und ihres Baukollegiums. In dem siebenköpfigen Gremium sitzen Mittes Baustadtrat Ephraim Gothe und fünf Architekten aus Österreich, der Schweiz, aus Leipzig und aus Berlin die Architektin Hilde Léon. Sie diskutieren die einzelnen Projekte nicht öffentlich, sondern hinter verschlossenen Türen.
Besuch beim Rationalisten Jan Kleihues. Der Architekt, silbergraue Haare, weißes Hemd, ist gut im Geschäft: Er hat am Leipziger Platz gebaut und vor kurzem öffnete das von ihm geplante H10-Hotel am Kurfürstendamm. Vor dem Berliner Baukollegium um Regula Lüscher hat er auch schon ein Projekt verteidigt. Er begrüßt das Gremium. Aber er sagt auch: In einer ähnlichen Einrichtung in München, der „Kommission für Stadtgestaltung“, werden Neubaupläne öffentlich diskutiert. Journalisten dürften beim Gremium ebenso zuhören wie „Herr Meyer“. „Das nimmt dem Ganzen den Hautgout, dass da gekungelt wird“. Und wie erklärt sich Kleihues das Verstummen der städtebaulichen Kritik? „Worüber soll man sich streiten, es gibt kein Konzept für die Stadt, an dem man sich reiben könnte!“
Die Erregung scheint letztlich den Anwohnern vorbehalten. Doch wenn sich der Widerstand gegen die riesigen gesichtslosen Quartiere regt, ist es oft schon zu spät. Dabei zeigt etwa der erfolgreiche Bürgerentscheid an der Mediaspree, wie vehement Anwohner Planungen fordern, die dem Geist des Ortes gerecht werden: mit Uferwegen beispielsweise, zum Wasser offenen Blöcken, kleineren Baukörpern. Und wenn Wasser das Leitmotiv am Anschutz-Areal wäre, warum sollte dort nicht spektakuläre Architektur möglich sein, wie das „Shell-Haus“ am Landwehrkanal nahe dem Kulturforum? 80 Jahre ist Emil Fahrenkamps Entwurf schon alt, für Gerkan aber das schönste Gebäude Berlins und für viele bis heute so jung und kühn, wie kaum ein zeitgenössischer Bau. Die acht gestaffelten, mit abgerundeten Ecken sanft wie Wellen ineinandergleitenden Baukörper nehmen der gewaltigen Fläche von 2700 Quadratmetern die Wucht.
Auch Christoph Langhof, Berliner mit österreichischen Wurzeln, sagt, der Städtebau in Berlin stecke in der Sackgasse. Inspiriert von der Ästhetik des Computerspiels „Tomb Raider“ hat er die Zentrale der Berliner Wasserbetriebe gebaut, und, wie Kleihues, einen Teil des Oktogons am Leipziger Platz. Langhof sagt, statt eines kleinen Expertenkreises „muss ein neues Stadtforum her“. Nach der Wende, mitten im großen Berliner Bauboom der 90er Jahre, wurden in dem heute fast vergessenen Forum Konzepte und Regeln, Pläne und Ideen öffentlich diskutiert und infrage gestellt. Eine Art Schlichtungskommission, lange vor Stuttgart 21 – und vor Eintritt des Schadens.
Es ist schon viel schief gegangen in Berlins Innenstadt, die Fehler sind meist irreparabel. Das gibt auch der frühere Senatsbaudirektor Hans Stimmann unumwunden zu. Die neue Zentrale des Bundesnachrichtendienstes in der Chausseestraße ist noch nicht eröffnet, da gilt das Projekt bereits als großer städtebaulicher Irrtum. Aus heutiger Sicht, sagte Stimmann jüngst bei einer Diskussion, wäre es besser gewesen, den BND weiter draußen anzusiedeln. Und auch sein Kollege, der TU-Professor Urs Kohlbrenner, bezeichnete den Neubau als „großen Fehler“. Der umzäunte Bürokomplex wirke wie ein „Korken mitten im städtischen Gefüge“. Wieder eine Chance vertan.
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