Karneval der Kulturen in Berlin-Kreuzberg: 740.000 feiern Karneval - und trotzen der Hitze
Hunderttausende sind gekommen, die Stimmung ist ausgelassen, die Kostüme farbenfroh - aber manchen Besuchern des Karnevals der Kulturen machen die hochsommerlichen Temperaturen zu schaffen. Die Veranstalter hatten auf noch mehr Gäste gehofft.
Viel trinken, Schatten aufsuchen, Pausen machen, außerdem Kopfbedeckungen und Sonnencreme - das ist der Rat der Sanitäter für diesen Tag. Für tausende Tänzer und zehntausende Schaulustige steht am Sonntag jedoch das Vergnügen im Mittelpunkt, ausgelassen feiern sie den Karneval der Kulturen, dessen große Parade bis zum Abend vom Hermannplatz durch Kreuzberg zum Mehringdamm zog. Nach Schätzung der Veranstalter kamen 740.000 Besucher nach Kreuzberg. "Wir hätten uns ein bisschen mehr erhofft, aber dafür war es wohl zu warm", hieß es am frühen Abend.
Pünktlich um 12.30 Uhr war es am Hermannplatz losgegangen: Die Tänzerinnen der Samba-Gruppe „Sapucaiu No Samba“ führen den Umzug an, wie schon in den vergangenen zwei Jahren. Zu sehen sind fantasievolle Kostüme, die an Paradiesvögel erinnern, die brütend heiße Sonne scheint den Tänzerinnen nicht viel auszumachen. Auch die folgenden Gruppen tanzen und trommeln sich in Stimmung, bevor sie der Eröffnungsgruppe langsam in Richtung Hermannstraße folgen, über die der Zug im Tagesverlauf langsam nach Westen ziehen will. Dort, am Mehringdamm, soll am Abend das große Finale stattfinden, nicht weit vom Straßenfest auf dem Blücherplatz entfernt.
„Irgendwo zwischen Bolivien und Deutschland“
Tausende Zuschauer haben sich zu Beginn der Parade an der Straße eingefunden, stehen in mehreren Reihen entlang der Straße, mit Sonnenhüten und Wasser ausgestattet. Die Stimmung ist ausgelassen und voller Vorfreude. Manchen allerdings macht die Hitze sichtbar zu schaffen: Schon während der ersten Minuten des Umzugs wird ein Sanitäter zur Hilfe gerufen, ein Zuschauer hat Kreislaufprobleme. 55 medizinische Helfer sind rund um den Karneval im Einsatz, mit zehn Einsatzwagen und drei mobilen Sanitätsstationen. Bis 16 Uhr gab es 37 Hilfeleistungen, davon wurden zwölf Patienten ins nächste Krankenhaus gebracht. Hauptsächlich handelte es sich dabei aufgrund der hohen Temperaturen um Überhitzung, Kreislaufstörungen und Dehydrierung.
Viele Zuschauer versuchen, einen der wenigen Schattenplätze zu bekommen. Eine Zuschauerin aus Treptow, die mit einer Freundin aus Steglitz direkt am Beginn des Umzugs steht, hält sich einen großen Sonnenschirm über den Kopf. Sie sei jedes Jahr beim Karneval dabei, sagt sie. „Aber heute werde ich es wohl nur noch eine Stunde aushalten.“ Andere bespritzen sich gegenseitig mit Wasser.
Die Eröffnungsgruppe „Sapucaiu No Samba“ hat zumindest für die Kinder in ihrem Zug ebenfalls eine Vorsichtsmaßnahme eingeplant: Die tanzen nur bis zum Südstern mit, heißt es. Danach dürfen sie sich eine Pause von der Hitze gönnen. Das Maskottchen der Gruppe, ein grüner Frosch, möchte dagegen bis zum Mehringdamm die Stimmung weiter anheizen - im Ganzkörperanzug. Das Gruppenmitglied, das darunter steckt, gibt den Frosch beim Karneval schon seit mehr als zehn Jahren. So wisse er genau, wo es auf der Strecke Schatten gibt, sagt er. „Zwischendrin werde ich vielleicht auch mal den Kopf ein bisschen lüften.“
Nach der Sambagruppe folgt eine bunte Mischung von Formationen: Der Kinderzirkus „Cabuwazi“ ist mit Stelzenläufern und überdimensionalen Puppen dabei. Eine Artistin wischt sich die verschwitzten Hände ab, bevor sie sich von einem anderen Akrobaten in die Höhe stemmen lässt. Die Gruppe „China meets Berlin“ präsentiert traditionelle asiatische Kostüme und Musikinstrumente. Die größte Gruppe an diesem Tag besteht aus 300 bolivianischen Tänzern - sie haben 1000 Liter Wasser dabei, um den Tag zu überstehen, wie ein Mitglied erzählt. Doch sie und die anderen Mitglieder genießen trotz ihrer schweren und sichtlich sehr warmen traditionellen Tracht die „Hammerstimmung“, wie sie sagen. „Das ist hier weder wie in Bolivien noch wie in Deutschland. Das ist irgendetwas dazwischen“, sagt eine Tänzerin.
Währenddessen nimmt am Rande der Strecke die Zahl der Notarzteinsätze zu. Viele Zuschauer verkraften die Hitze in Verbindung mit Alkohol offenbar gar nicht, wie ein Sanitäter berichtet. Aber auch ohne Alkohol stöhnen manche Schaulustige über die Temperaturen und verkünden, dass sie sicher nicht bis zum Ende dieses Karnevalstages dabei sein werden.
84 Formationen, rund 5300 Akteure
Während der Trubel am Hermannplatz schon in vollem Gange ist, sind manche Gruppen noch gar nicht eingetroffen. Die Teilnehmer mit den hinteren Startnummern warten entlang der Urbanstraße, dass es auch für sie losgeht. Manche starten erst gegen 17 Uhr. Heinz Haberland, der mit seinen Schülern von der Neuköllner Röntgenschule teilnimmt, ist noch allein auf dem Wagen, den die Schüler als Dschungel dekoriert haben. „Wir wollten die Kinder wegen der Hitze nicht eine Minute zu früh herbestellen“, sagt er.
Die anderen Gruppen vertreiben sich die Wartezeit entweder auf dem grünen Mittelstreifen im Schatten oder sie machen bereits Stimmung mit Trommeln und Musik. Hier und da gibt es sogar schon kleine Konzerte, die Musiker vor kleinem Publikum live von ihren Wagen herunter spielen.
Insgesamt 84 Formationen mit rund 5300 Akteuren werden an diesem Tag durch die Stadt ziehen, wir zeigen in unserer oben stehenden Fotostrecke eine Auswahl. Und stellen im Folgenden vier Gruppen genauer vor:
DIE WALDGEISTER AUS MOABIT
Boi Da Capoira Doida
Seit Hidemburgo Hipólto de Oliveira vor drei Jahren wieder nach Brasilien gezogen ist, gibt es jedes Jahr einen festen Termin, zu dem er in seine zweite Heimat Berlin zurückkehrt: den Karneval der Kulturen. „Es ist einzigartig, wie man hier in wenigen Stunden die ganze Weltkultur kennenlernen kann“, sagt er. Zum 18. Mal nimmt er mit seiner Berliner Gruppe „Boi Da Caipora Doida“ am Karnevalsumzug teil. Dazu gehören der dekorierte Minibus und bis zu 30 Musiker, Tänzer und Sänger, die brasilianische Traditionen präsentieren – und ganz wichtig: der Ochse, der vor allem bei den Kindern so beliebt ist. Zwei Männer stecken in der zweieinhalb Meter langen Figur, die zur Mythologie um den Waldgeist „Caipora“ gehört. In seiner Heimat, dem Land des Karnevals, erzählt Hidemburgo Hipólto de Oliveira gerne vom Berliner Großereignis. Der größte Unterschied zum Karneval in Rio? Das sei die staatliche Unterstützung, die es in Berlin nicht gibt. Die kleinen Veranstalter müssen die Finanzierung, vom Festwagen bis zum Probenraum, selbst stemmen. „Ob das bei uns auch nächstes Jahr noch klappt, weiß ich nicht“, sagt de Oliveira. Vor zwei Wochen ist er aus Brasilien eingeflogen, um mit seiner Gruppe in einem Jugendclub in Moabit zu proben.
AFFENTANZ IM POLIZEIWAGEN
Kidz 44
Ein Besoffener und ein Junkie gehörten selbstverständlich zur Wagendekoration der Röntgenschule dazu. Schließlich war das Ziel, die Neuköllner Umgebung möglichst originalgetreu abzubilden. Bis die Deko 2012 beim Umzug an den neuen Schulstandort in Treptow verlorenging und die Schülergruppe „Kidz 44 – Wir sind Neukölln!!!“ den Karneval kurzfristig absagen musste. Seit vergangenem Jahr starten Schulleiter Heinz Haberland und seine Schüler mit einem neuen Thema: Die Schüler bastelten mit Spanplatten einen Dschungelwagen und erhielten dafür von der Jury eine Auszeichnung. Jetzt ist die Schule zum sechsten Mal dabei, in Kooperation mit der Berliner Polizei, die den Wagen stellt, und der Musikschule Neukölln. Auf dem Fahrzeug spielt eine Live-Band, die später durch einen Seniorenchor ergänzt wird. Dieses Jahr sind im Textilkurs sogar selbst genähte Affenkostüme hinzugekommen, in denen die Schüler Melonen, Bananen und Ananas aus Pappmaschee an die Besucher verteilen wollen. Auch der Schulleiter wird ins Kostüm schlüpfen und „mich zum Affen machen“, sagt er. Ein leidenschaftlicher Tänzer sei er außerdem.
ZOMBIES AN DER ABSPERRUNG
MMC Berlin e. V.
Zwischen all den Tänzern, Sängern und Musikern können die Besucher auch mit diesem Anblick rechnen: Mr. T, bekannt aus der US-Serie „A-Team“. Der Comic-Händler Alexander Brewka hat das Kostüm schon auf der Internationalen Funkausstellung probegetragen, mitsamt Irokesenfrisur und Goldketten. Er ist Mitgründer des Vereins MMC Berlin in Gesundbrunnen, der sich für die Verbreitung japanischer Popkultur stark macht – dazu gehört unter anderem das sogenannte Cosplaying, dessen Anhänger sich so originalgetreu wie möglich als Figuren aus Mangareihen, Anime-Filmen, TV-Serien und Computerspielen verkleiden. Brewkas Frau Christina organisiert zum fünften Mal die Teilnahme der Cosplayer am Karneval der Kulturen. „Da steckt unheimlich viel Liebe und Arbeit drin. Die Teilnehmer sitzen teilweise ein ganzes Jahr lang an ihren selbst genähten Kostümen“, sagt sie. Ob Zombies, Storm Trooper aus der „Star Wars“-Reihe oder Avatare, die blaue Schwänze hinter sich herziehen – insgesamt rechnet MMC Berlin mit bis zu hundert Fantasiegeschöpfen, die hinter ihrem Wagen her zu japanischer Pop- und Rock-Musik tanzen.
DIE SONNENANBETER
Lelewal Woila e. V./Grasslanders e. V.
Für den Verein Lelewal Woila ist der Umzug eine Premiere – die Ingenieure der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin haben sich einem Preisträger aus dem vergangenen Jahr angeschlossen: der Gruppe Grasslanders e. V., die zum achten Mal den traditionellen Juju-Tanz aus Kamerun präsentiert, mit Riesenxylophon, Trommeln, Glocken und Fußrasseln. Auf den ersten Blick haben beide Gruppen nicht viel miteinander zu tun, auf den zweiten ergänzen sie sich bestens: Den Grasslandern fehlte bislang eine Verstärkung ihrer Instrumente – Lelewal Woila baut gerade in Kamerun eine Berufsschule für erneuerbare Energien auf und hat für den Umzug am Sonntag eine solarbetriebene Soundanlage ausgetüftelt. Einem Feuerwehrfahrzeug haben sie ein Spitzdach mit 24 Quadratmetern Fotovoltaik-Modulen aufgesetzt. Die Botschaft: Seht her, was Sonnenenergie alles leisten kann. „Promotion für die Sonne“, nennt das Mattias Breitenbach vom Lelewal Woila. Davon wird der Karneval reichlich haben – mit bis zu 34 Grad wird es sehr heiß am Sonntag.