Protokoll einer Geburt: 22 Stunden Schwerstarbeit für das Sonntagskind
Fast einen ganzen Tag lang liegt Amira Vers in den Wehen. Hält sie das aus? Ja, denn plötzlich setzt sie ungeahnte Kräfte frei. Der Weg ist frei für Oskar, ihren Sohn, der sich so lange Zeit ließ – und mit so viel Liebe empfangen wird. Protokoll einer Geburt.
Immer wieder sonntags, das könnte als Motto über der Schwangerschaft von Amira Vers stehen. An einem Sonntag – am 25. Dezember 2016 – sagt sie ihrem Mann Ole: „Wir werden Eltern.“ Ole ist damals 26, war aus Hamburg nach Berlin gezogen, Amira ist ein Jahr jünger, Spandauerin. Beide hatten sich auf der Arbeit kennengelernt, im öffentlichen Dienst. Vier Jahre waren sie zusammen, als sie heirateten. „Dass wir Nachwuchs wollten, war uns im gleichen Moment klar“, sagt Ole.
Der Sonntag sollte wichtig bleiben. Das nächste Mal als Schreckmoment. In den ersten Schwangerschaftswochen musste Amira an einem Sonntag in die Notaufnahme. Plötzliche Blutungen. Die werdenden Eltern hatten Angst, das Kind zu verlieren. Doch die Ärzte geben Entwarnung. Amira hat Polypen – gutartige Wucherungen – in der Gebärmutterschleimhaut. Während einer Schwangerschaft neigen diese immer wieder zu Blutungen, doch sie sind meist harmlos. Und es war wieder ein Sonntag, als sie die Diagnose hörte: Schwangerschaftsdiabetes. Eine gar nicht so seltene Begleiterscheinung von Schwangerschaften.
Erst kurz vor dem Geburtstermin streicht das Paar das Zimmer in seiner Wohnung im Brandenburgischen blau. Es wird ein Junge. „Das ist unsere Form der Vorfreude, denn erst damit war es real greifbar: Oskar kommt,“ sagt Amira. Oskar – den Namen haben sie schon vor Wochen per Smartphone-App ausgewählt – soll dem errechneten Geburtstermin nach an einem Sonnabend zur Welt kommen. Oskar aber lässt sich Zeit.
Die erste Chance aufs Sonntagskindsein lässt er verstreichen, den Montag und den Dienstag ebenso. Mittwoch und Donnerstag. Die Fragen von Freunden und Bekannten, wann es denn endlich losgehe, werden häufiger. Doch das Kind entscheidet selbst, wann die Geburt losgeht, sagen Ärzte.
Am Freitag, dem sechsten Tag über dem Termin, entschließen sich die Ärzte am Evangelischen Waldkrankenhaus Spandau, an dem Amira ihr Kind entbinden möchte, Oskar daran zu erinnern, dass es nun doch Zeit wird. Um 10 Uhr bekommt Amira die erste Kapsel eines Medikaments, das die Wehen auslösen soll. Planbar ist damit die Geburt aber noch lange nicht. „Es kann sechs Stunden dauern oder sechs Tage, bis es losgeht“, sagt die betreuende Ärztin. Oskar verfolgt seinen eigenen Terminplan. Freitag vergeht. Peilt er den Sonntag an?
Sonnabend, 2.34 Uhr
Die Fruchtblase ist geplatzt! Normalerweise ist das der Zeitpunkt, an dem man seine gepackten Köfferchen schnappt und sich auf den Weg ins Krankenhaus macht. Doch Amira und Ole sind wegen der Geburtseinleitung schon da, sie übernachten im Vorwehenzimmer, der letzten Station vor dem Kreißsaal. Doch dann werden de Herztöne des Kindes plötzlich unregelmäßig. Außerdem nimmt das CTG, der Wehenschreiber, keine Wehen auf, obwohl Amira diese bereits deutlich spürt. Das sei zwar normal, sagen Ärzte, das CTG registriere Wehen erst ab einer bestimmten Intensität. Doch beides zusammen – die unregelmäßigen Herztöne und die fehlende Wehenaufzeichnung – beunruhigt die diensthabende Ärztin.
4 Uhr
Die Ärztin entscheidet: Amira muss in den Kreißsaal. Dort könne man alles besser überwachen. Der Muttermund ist zu dem Zeitpunkt gerade erst einen Zentimeter offen. Normalerweise wird eine Gebärende erst in den Kreißsaal verlegt, wenn der Muttermund vier Zentimeter offen ist. Bis dahin können die Frauen im Vorwehenzimmer umhergehen, sich nach Belieben setzen und wieder aufstehen. Das regt die Öffnung des Muttermundes an, zudem lindert es die Wehenschmerzen. Werdende Eltern verbringen meist viel Zeit in dem Zimmer, von den ersten Signalen bis zum Beginn der Geburt vergehen oft Stunden.
Im Kreißsaal ist es mit der Bewegungsfreiheit erst einmal vorbei. Ab jetzt muss Amira in dem großen Bett bleiben, das den Raum beherrscht.
6.48 Uhr
Nichts tut sich. Der Muttermund von Amira öffnet sich nicht weiter. Wenn Oskar ein Sonntagskind werden will, müssen sich alle noch Stunden gedulden.
Oskars Mutter aber möchte endlich ihren Kleinen sehen, der sie schon seit Monaten mit kräftigen Tritten auf sich aufmerksam gemacht hat. „Ich bin so gespannt, wie er aussieht und ob er schöne lange Haare hat.“ Während sie die nächsten Stunden die Wehen quälen, wird sie mehr als einmal sagen. „Ich will, dass er endlich rauskommt.“ Die Neugier auf sein Haar spielt dabei irgendwann eine immer geringere Rolle.
9.50 Uhr
Seit mehr als fünf Stunden kämpft Amira nun schon mit den Wehen. Sie kommen jetzt in Zehn-Minuten-Abständen. Und sie kommen heftig. Immer wieder schreit Amira, wünscht sich, wenn die nächste Wehe sie überrollt: „Bitte nicht schon wieder.“ Ihre Mutter Violetta, selbst ausgebildete Krankenschwester, ist mit im Kreißsaal und versucht sie zu trösten: „Als du kamst damals, hast du mich als Erstes angelächelt.“ Amira antwortet mit trockenem Humor: „Ja, aus Schadenfreude.“ Die nächste Wehe setzt ein ...
Amira hat sich nun doch für eine PDA entschieden, eine Periduralanästhesie direkt in die schmerzübertragenden Nervenstränge in der Nähe des Rückenmarks, um die Beschwerden zu lindern.
11.03 Uhr
Der Muttermund verharrt bei einem Zentimeter. Über einen Tropf verabreicht die Hebamme Amira ein Medikament, das die Frequenz und Intensität der Wehen erhöhen soll. „Wir hoffen, dass es dann einen Boost gibt und sich der Muttermund schneller öffnet“, sagt die Geburtsbegleiterin.
Die PDA wirkt. Amira schaut nun entspannt und interessiert auf die langen Kurven, die das CTG am laufenden Band ausspuckt. Die Schmerzen der Wehen, die sie eben noch schreien ließen, merkt sie nicht mehr.
Beruhigend hängt über der ganzen Szenerie das Geräusch des schlagenden Herzens des kleinen Menschen, das das CTG an einen Lautsprecher überträgt. Immer wenn eine Wehe kommt, sinkt die Frequenz des Herzschlags etwas ab. Ein deutliches Signal dafür, dass es auch der Kleine im Bauch nicht mehr allzu gemütlich hat. „Bei einer Wehe wird das Köpfchen des Babys gegen den Muttermund gedrückt. Das bereitet ihm Stress – und das lässt den Herzschlag steigen oder sinken“, sagt die Hebamme. „Aber das ist normal. Dem Kind geht es gut.“
12.30 Uhr
Die Hebammen verabreichen Amira vaginal zwei Zäpfchen. Das soll den Muttermund anregen, sich endlich weiter zu öffnen. Denn noch immer will sich die Situation nicht verändern.
13.38 Uhr
Der Muttermund ist bei vier Zentimetern. Jetzt erst hätte Amira im Normalfall in den Kreißsaal gemusst. Seit über acht Stunden harrt sie hier schon aus.
Acht sehr harte Arbeitsstunden. Doch Amira ist eine starke Frau. Das zeigte sie schon während der Schwangerschaft, als sie sich durch den Diabetes kämpfen musste. Sie hat damals ihre Ernährung komplett umgestellt, Kohlehydrate waren tabu. Künstliches Insulin spritzen wollte sie nicht, um das Kind zu schützen. Also verzichtete sie auf fast alles, was sie gern mochte: Burger, Döner, richtiges Brot, Schokolade ... Sie aß, weil sie sich und ihr Kind ja ernähren musste, nicht weil es ihr geschmeckt hätte. „Man kann gar nicht so viel Wurst auf eine Scheibe Eiweißbrot legen, dass es schmeckt“, sagt sie. Ihre Mutter bewundert sie für diese Willenskraft.
Amira liegt seit 14 Stunden in den Wehen
16.25 Uhr
Die Hebamme misst den Blutzucker. „75“, sagt sie. Fast unterzuckert. Kein Wunder: Amira liegt seit 14 Stunden in den Wehen. „Die sind wie ein Marathonlauf, das verbraucht viel Energie“, sagt die Hebamme. Amira darf jetzt ein Stück von einem Schokoriegel essen, das erste Mal seit April, als sie wegen des Diabetes ihre Ernährung ändern musste. Sie hat sich so darauf gefreut, doch jetzt kann sie es gar nicht würdigen, zwingt sich dazu, ein paar Bissen zu essen. Denn darauf hat sie jetzt gar keine Lust.
18.04 Uhr
Amira liegt seit knapp 16 Stunden in den Wehen. Die Entscheidung für eine Entbindung per Kaiserschnitt liegt in der Luft. Aber es ist auch etwas vorangegangen, der Muttermund ist auf sieben Zentimeter geweitet. Drei fehlen noch. Die Ärztin entscheidet: Wir versuchen es weiter. In einer Stunde beraten wir erneut.
Immer wieder legt Ole seine Hand auf den Rücken seiner Frau, spricht beruhigend auf sie ein: „Atme, jetzt hechele. Du bist so tapfer.“ Die Wehen sind heftig. So heftig, dass selbst die PDA, die nun auf die höchste Stufe gestellt ist, nicht mehr wirkt. Die Schwangere hält es schon lange nicht mehr im Liegen aus. Im Bockstand hockt sie auf dem Bett, wimmert und schreit, wiegt sich hin und her. Das bringt ihr etwas Erleichterung. Im Minutentakt kommen die Wehen.
19.45 Uhr
Der Muttermund ist vollständig geöffnet, binnen kurzer Zeit. Ein Kaiserschnitt ist kein Thema mehr. Doch für Oskar ging das jetzt alles zu schnell. „Der Muttermund ist regelrecht aufgekracht“, sagt die Ärztin. Er hatte sich binnen einer Stunde um vier Zentimeter geöffnet, normal sind etwa ein Zentimeter pro Stunde. Dadurch rutsche das Köpfchen zu plötzlich in den Geburtskanal. Der Druck wird zu groß, und die Herzfrequenz des Babys sackt ab. Die Ärztin muss nun auf die Bremse treten. Amira bekommt ein wehenunterbrechendes Medikament.
20.55 Uhr
Endlich, die ersten Presswehen. Die Geburt beginnt. Die Hebamme spricht eindringlich auf Amira ein: „Wir begleiten Sie jetzt da durch, sagen ihnen, was sie tun müssen.“ Die diensthabende Ärztin kommt hinzu. Nun stehen vier Menschen um das Bett von Amira: Die Ärztin, die Hebamme, ihr Mann und ihre Mutter. „Immer, wenn die Wehe einsetzt, müssen Sie pressen, so fest und lange es geht.“ Die Presswehen kommen im Abstand von zwei Minuten. Immer wieder drückt Amira, und immer wieder gipfelt das Pressen in einem Schmerzensschrei. „Machen Sie weiter, drücken Sie die Luft in den Körper, nicht in den Schrei“, mahnt die Ärztin energisch. Erst versucht es Amira im Hocken, dann wechselt sie auf die Seitenlage, schließlich erschöpft auf den Rücken. Die Beine weit geöffnet, Hebamme und Ärztin halten sie offen, Ehemann und Mutter streichen ihr beruhigend über das Gesicht, halten ihren Kopf, ihre Arme. Die richtige Position ist gefunden, so wird es klappen.
21.22 Uhr
Oskars Köpfchen ist zu sehen, die dichten schwarzen Haare. Das Baby ist jetzt tief im Geburtskanal. Die Wehe verebbt.
Der Endspurt beginnt. Der Gesichtsausdruck von Amira verändert sich, war er bis eben immer wieder schmerzverzerrt, so wirkt es jetzt zunehmen konzentriert. „Mein Sohn kommt“, geht ihr durch den Kopf. „Hilf ihm!“ Und sie hilft ihm, sie zieht die Beine an, drückt ihren Kopf auf die Brust, macht sich ganz rund, presst diszipliniert, konzentriert sich auf ihren Oskar, der da unterwegs ist.
21.50 Uhr
Plötzlich ist er da. Als sein Kopf endlich hindurch ist, geht alles ganz schnell. Der erste Schrei, die Hebamme wischt Oskar kurz ab, legt ihn auf Amiras Brust, breitet behutsam eine gelbe Decke über ihn. Ole durchtrennt die Nabelschnur, sprachlos, Tränen stehen in seinen Augen.
Oskar liegt auf Amiras Brust. 49 Zentimeter groß, 3005 Gramm schwer. Öffnet immer wieder die Augen, schreit zwischendurch gnädig, weil man das von ihm erwartet. Sein kleines Gesicht scheint zu lächeln, dann wieder zu schimpfen. „Frech wie Oskar“, kommentiert die Hebamme.
Und Amira? Der Gesichtsausdruck der jungen Mutter hat sich schlagartig verändert. „Mein wunderschöner Oskar“, flüstert sie, wiederholt es. „Du bist bei mir, du bist so schön.“ Sie scheint überzulaufen vor Glück. 20 Stunden Wehen? 20 Stunden Schmerzen? Alles ist wie weggewischt. Vergessen in dem Augenblick, da der Kleine seiner Mutter direkt in die Augen schaut. Wer so geliebt empfangen wird, der ist doch immer ein Sonntagskind, völlig egal, dass es eigentlich noch Sonnabend ist.
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